: Die Mauer - Magnet für Millionen
■ 26 Jahre nach dem Bau der Mauer hat sich der Betonwall um die Stadt verdient gemacht / Touristen, Künstler und Polit–Irre kommen nicht an ihr vorbei / Astronauten erkennen den „Schutzwall“ aus dem Weltall / Wenns die Mauer nicht gäbe, müßte sie erfunden werden
Aus Berlin Helmut Höge
Obwohl seit 1961 in einer Art ununterbrochener Luftbrücke Milliarden in die Stadt gepumpt wurden, um sie attraktiver zu machen, bleibt die 162 km lange Mauer die größte Berliner Sehenswürdigkeit. Sechs Millionen Besucher kommen alljährlich - und hauptsächlich ihretwegen - nach West– Berlin (sie bleiben durchschnittlich 2,3 Tage in der Stadt). An Spitzentagen karren mehr als 50 Stadtrundfahrtsbusse kameraausgerüstete Mauertouristen an das Objekt ihres Erinnerungsalbums. Der Osten verdient daran nur über den Umweg der Transitpauschale. Trotzdem hat die DDR keine Kosten und Mühen gescheut, um seit 1961 „das beste Grenzsicherungssystem der Welt“ auch optisch ansprechender zu gestalten. Das „Mauer–Museum“ am Checkpoint Charlie, in dem alle Fluchtutensilien und „Zwischenfälle“ (192 mit tödlichem Ausgang) exponiert werden, spricht mittlerweile von einer „Mauer der vierten Generation“: „Triumpf der Technik und Ästhetik - die neuen Bauelemente aus Beton sind so konstruiert, daß sie sich fugenlos und stabilisierend ineinanderfügen.“ (Broschüre: „Die Mauer spricht“, S.20) Die ca. 164.000 Betonplatten der vierten Generation wurden noch dicker (16 cm) und noch höher (4,10 m mit Rohrauflage) gestaltet. Zur „Schandmauer“ (Ade nauer) gehören aber auch die 210 Beobachtungstürme, 245 Bunker– und Schützenstellungen, 6.400 Peitschenlampen und 11.000 Sichtblenden sowie ein elektrisch geladener Stacheldrahtzaun (“mit dem die ganze Erde umspannt werden könnte“ - „Es geschah an der Mauer“, S.25) und der stets frisch geeggte sogenannte „Todesstreifen“ (Boehnisch), auf dem sich Tausende von „vorbildhaften Kaninchen“ (Wagenbach) tummeln. Bei Wolkenlosigkeit kann man den „antiimperialisti schen Schutzwall“ (Ulbricht) vom Mond aus sehen, berichten Astronauten. Für die Mauertouristen wurden vom Senat bisher nur 52 provisori sche Aussichtsplattformen errichtet, einige umgeben von Imbiß– und Souvenirständen. Die am meisten bestiegene (mit Buswendestelle) steht am Potsdamer Platz, die berühmteste, das sogenannte „Kennedy–Podest“, am Grenzübergang Friedrichstraße/ Checkpoint Charlie. Nicht zu zählen sind die unbekannten Graffiti– Künstler, die in Eigeninitiative aus dem Grenzwall die „größte Wandzeitung der Welt“ (Murdock) machten. Eine Publizistengruppe hat 1985 versucht, alle „Mauersprüche“ abzuschreiben. Sie resignierte bei 13.000. Berliner Rockgruppen lassen sich am liebsten mit der Mauer im Hintergrund fotografieren (“Doch die Mauer im Rücken ist kalt“ - David Bowie), auswärtige Politiker bevorzugen den Blick über die Mauer, Ost–West–Verhandler die Gesprächssituation davor. Das konservative Mauermuseum veranstaltete 1982 einen Kunstwettbewerb „Überwindung der Mauer durch Bemalung“, an dem sich u.a. Wolf Vostell beteiligte. 1986 wurde für den New Yorker Graffitikünstler Keith Haring extra die alte Graffiti überweißt - erstmals auf Westkosten. Heuer veranstaltete die progressive „Mythos Berlin GmbH“ einen Ideenwettbewerb „Zur behutsamen Überwindung der Mauer“. Den ersten Preis erhielt Werner Zellien - mit einem weiteren Stück Mauer (in Original– VEB–Maßen) auf der Rousseau– Insel im Tiergarten. Nach seinem DAAD–Berlin–Stipendium schrieb der Brasilianer Ignacio Brandao einen „Öko–Mauerroman“, der in seinem Land zu einem Bestseller wurde. Auf fünf Prozent schätzt einer der am Grenzübergang Hamburger Bahnhof diensttuenden Beamten den Anteil der „Polit–Irren“ am jährlichen Mauertourismus– Aufkommen. Gemeint sind damit all diejenigen, die ihre privaten Macken und künstlerisch–intellektuellen Aussagen an bzw. mit der Berliner Mauer politisch aufladen. Das Spektrum reicht vom 80jährigen Amerikaner John Runnings, der an die Mauer pißt und die Rohrauflage mit einem Hammer bearbeitet, über den 26jährigen Göttinger Kain Karawahn, dessen Berliner Performance– Karriere mit einer „Feueraktion an der Mauer“ begann, und der Jungkünstlerin Ewa Partum, die sich vor der frischgeweißten Grenzanlage auszog, bis zur Mun– Sekte und dem polnischen Aktionsmystiker Lodek (“Die Mauer hat die Kirche als Ort der Meditation ersetzt“), der mit dem Kopf gegen eine die Mauer schützende Polizeikette rannte. Derlei Proteste interessieren bald niemanden mehr. Wer die Mauer von Ost nach West überwindet, bekommt allerdings in der Berliner Presse nach wie vor Schlagzeilen, Haustiere, die sich nach drüben verirrt haben, ebenso. Darüber hinaus gibt es eine wachsende Zahl Lebensmüder in der Stadt, die mit ihrem Auto gegen die Mauer rasen - und so wenigstens ihren Tod spektakulär inszenieren. Wenn es die Mauer nicht gäbe, Berlin müßte sie erfinden. Für eine noch attraktivere Gestaltung ist der Vorschlag von Joseph Beuys nach wie vor unübertroffen: Erhöhung der Mauer um fünf Zentimeter - „aus ästhetischen Gründen“.
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