: Edinburgh im Festivaltaumel
■ Alljährlich läuft in Edinburgh das wohl größte Theaterfestival der Welt / Von Klaus Nothnagel
Sommerfestivals gibts in Europa landauf landab. Das Festival im schottischen Edinburgh vom 7. bis zum 29. August ist außergewöhnlich vor allem durch seine Vielfalt. Fast 500 Gruppen mit über tausend Vorstellungen verwandeln die Stadt in eine einzige Theaterbühne. Niemand wählt Gruppen aus, jeder darf auftreten. Das bringt auch Nachteile mit sich: Im Mittelmaß geht Besonderes unter.
Das erste, was der anreisende Gast vom Edinburgh Festival Fringe sieht, sind die Künstler selber. Unzählige von ihnen in Straßenanzügen oder Kostümen der verschiedensten Epochen, auf Stelzen oder zu ebener Erde, ungeschminkt oder in bizarren Masken: Hier ist jeder, wenn nicht gerade Showtime ist, auch seine eigene Werbeabteilung. Man sieht Sandwich–Männer und -Frauen, auf deren Schilder Titel, Ort und Uhrzeit einer Produktion zu lesen sind; ganze Szenen aus den Stücken werden auf dem großen Platz vor dem Museum gespielt, zu Füßen der Burg, wo sich Dudelsackbläser, T–Shirt–Verkäufer und Pflastermaler ihren Platz erkämpft haben. An manchen Tagen kommt man mit mehreren Dutzend „leaflets“ (Handzetteln) nach Hause, meist wirft man sie weg: Auf die Idee, daß originelles Theater am besten durch neuartige Werbemethoden repräsentiert werden könnte, ist auch hier noch niemand gekommen. Die wichtigste Werbung ist trotz aller Eigeninitiative eine Ankündigung im Fringe–Programm, einem von dem Öl–Multi BP gesponserten Heft, das auf billigem Papier, mit einem doppelseitigen Stadtplan in der Mitte, 84 Seiten lang Shows ankündigt, von A wie „Abbotsford Shakespeare Festival“ bis Z wie „Zone Theatre Company“. Vom Schüler– und Studententheater bis zur international anerkannten Profi–Gruppe ist hier alles vertreten: Klassiker (jede Menge Shakespeare selbstverständlich), britisches Gegenwartstheater von Autoren, die auf dem Kontinent noch keiner kennt, „Klassiker der Moderne“ wie Edward Bond, Ballett, Musical, Pantomime, Pop– und Folkmusik und vieles mehr. Die meisten „Venues“, Spielstätten, zeigen ihre Vorstellungen vom 7. bis zum 29. August; selbst wenn jede der 144 „Venues“ nur eine durchlaufende Vorstellung im Programm hätte, käme man auf fast 3.000 Vorstellungen. Es sind wesentlich mehr, mindestens doppelt so viele; allein die Assembly Rooms beispielsweise, die allerbeste Spielstätte der Fringe, zeigen in ihren fünf Theaterräumen mit 49 verschiedenen Gruppen oder Solisten etwa 600 Vorstellungen. Und das in drei Wochen in einer Provinzstadt, ein immenser organisatorischer und finanzieller Aufwand. Wichtigstes Kennzeichen des Fringe ist seine prinzipielle Offenheit. Es gibt keine Ablehnungen von Künstlern - es sei denn, sie können die Zugangsgebühr von 170 Pfund (etwas 500 Mark) nicht bezahlen, die für den Druck des Programms und für die verschiedenen Hilfeleistungen des Festivalstabs verwendet wird: Das Fringe Office verhilft den Künstlern zu Unterkünften, berät sie über Aufführungsrechte, beantragt Theaterlizenzen für die Spielstätten, läßt Eintrittskarten drucken, kümmert sich um Presse und PR–Kontakte. Das Festival gibt keinerlei Garantien, Extrawerbung - wie z.B. Anzeigen, die über die normale Ankündigung im Fringe–Programm hinausgehen - muß von den Künstlern bezahlt werden. Wie Publikum in die Spielstätten gelockt wird, ist Problem der Künstler. Das meiste Geld kommt über die Zuschauer in die Kassen, der „Scotish Arts Council“. Die Lokalregierung und Sponsoren von BP bis zur schottischen Lebensversicherungsgesellschaft legen ein paar Zehntausender dazu, die beim Umfang des Festivals nicht der Rede wert sind. Der Kampf um die Zuschauer bezieht die ganze Stadt ein; beliebtester Werbeträger scheinen derzeit T–Shirts zu sein. Christopher Rathbone, Kritiker des Times Educational Supplement, schätzt, daß für jede einzelne Gruppe ein Zuschauerschnitt von 30 zu haben wäre; statt dessen locken einige Shows Tausende an, andere finden vor vier trübsinnigen Zuschauern statt oder müssen ausfallen. Die Assembly Rooms, die mit ihrem zunehmend kommerziell orientierten Programm Tausende von Zuschauern abziehen, sind an den anderen Fringe–Spielorten oft nicht sonderlich beliebt. Allerdings bleibt der künstlerischen Direktion des 200 Jahre alten Gebäudes keine Wahl: Die Mieten des stadteigenen Gebäudes sind derart hoch, daß zumindest einige Riesen–Publikumsrenner engagiert werden müssen, damit noch Risiken mit experimentellen Produktionen möglich sind. Die Assembly Rooms haben deshalb ein überdurchschnittlich heterogenes Publikum: Wenn Rory Bremner, ein landesweit bekannter, TV–erprobter Menschenstimmenimitator seine parodistischen Shows vorführt, stürmen ganze Fernsehfamilien das Gebäude, die Schlangen stehen bis um die nächste Straßenecke. Die Schlangen übrigens, stets vom „Icecream“–Gebrüll der konzessionierten Bauchladenverkäufer begleitet, bleiben schnöderweise auch dem Berichterstatter nicht erspart. Daß Britannien eine Insel ist, spürt man an der Haltung der meisten Zuschauer. Alexander Waechter aus Berlin, der in ausgezeichnetem Englisch eine übersetzte Version seines Botho– Strauß–Programms „Rumor“ zeigte, spielte trotz guter Kritiken vor deprimierend wenigen Zuschauern. Das britische Publikum weigert sich, Programme aus nicht–englischsprachigen Ländern zu Kenntnis zu nehmen, von fremdsprachigen Produktionen ganz zu schweigen. Lücken im Programm Allerdings haben auch die Assembly Rooms nicht genug für Waechter getan: Die Werbung für sein Soloprogramm hob weder die Bedeutung von Botho Strauß noch die Tatsache gebührend hervor, daß nicht in deutscher Sprache gespielt wurde. Dabei ist es Waechter sogar gelungen, eine eigene, auch Botho Strauß gerecht werdende Haltung zum Englischen zu finden. Musiker wie Dagmar Krause, die Brecht singt, haben es da mitunter, mit einer finanzkräftigen und werbekundigen Plattenfirma im Rücken, wesentlich leichter. Und Stars wie Dario Fo konnten sich (in vergangenen Jahren) sogar eine etwas sonderbar wirkende aber funktionierende Untertitelungsanlage ins Theater stellen lassen. Außer Alexander Waechter und der seit 15 Jahren nicht mehr in Deutschland lebenden Dagmar Krause trat noch eine Studentengruppe vom anglistischen Seminar der Universität Heidelberg auf, in englischer Sprache. Etwa fünf oder sechs französische Gruppen sind hier, aus Spanien niemand, aus Italien eine Produktion, keine aus der Schweiz, aus Portugal, aus Skandinaven oder aus Lateinamerika. Was dem Programm fehlt - wenn man nach gut der Hälfte des Festivals und den bisher gemachten Stichproben überhaupt urteilen will - sind die großen Überraschungen. Der britische Comedy– Boom, das mag bei der sehr selek tiven Kurzberichterstattung nicht auffallen, hat vielleicht seinen Höhepunkt schon überschritten; man sieht viel längst Bekanntes, viele Stümpereien, viele Shows, in denen Frechheit siegt und Qualität, Unverwechselbares fehlt. Christopher Rathbone, der das Festival seit Jahren als Kritiker besucht, stellt dieses Jahr eine etwas müde Stimmung fest. Sogar in einzelnen sehr gut besuchten Vorstellungen habe er ein etwas beifallsmüdes Publikum gefunden. „Mir fehlt dieses Jahr die ansteckende Begeisterung, das euphorische, nervös–neugierige typische Festival–Gefühl. Und die Müdigkeit, die ich dieses Jahr spüre, steckt genauso an wie die Begeisterung“, sagt Christopher. Gemeinsam stellen wir fest, daß auch ein viel einfacherer Grund die etwas laue Stimmung erklären könnte: Politische Resignation und ökonomische Krise haben auf das weitaus „alternativ“ ausgerichtete Festival durchgeschlagen. Viele Gruppen haben, weil zu Haus aus finanziellen Gründen weniger Zuschauer kommen, sich dieses Jahr die Exkursion vielleicht nicht leisten können. Auch in Edinburgh bleiben bei Eintrittspreisen von neun bis zwanzig Mark viele Zuschauer zu Haus. Und politisch wird es immer schwerer, in Thatcher–, Kohl– oder Reagan–Ländern, in der bedrückenden Mittelmäßigkeit des Wendegeistes, Impulse zu finden für neue Theaterformen - die dann mit Sicherheit in Edinburgh zu sehen wären.
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