: Veltlin - auf Jahrzehnte hinaus unbewohnbar Mehr als 20.000 Menschen im Veltlin–Tal sind zur Zeit permanent auf der Flucht vor Schlick und Wasser / „Nichts geht hier mehr in den kommenden Jahrzehnten“ / Von der für den Tourismus ausgeschlachteten Romantik wird nichts übrigbleiben
Aus Sondrio Werner Raith
Giancarlo DAlberti hat es schon zweimal erwischt, Gianna De Michelis gar dreimal. „Rekordhalter“ aber ist Ottavio Onofrio - er wurde bereits fünfmal evakuiert. „Jedesmal“, flucht er, „in einen Ort, wo ich angeblich bis zum Frühjahr bleiben kann. Bis es dann wieder zurück nach Bormio geht.“ Doch weiter unten, in Sondalo, kam die „frana“, der Erdrutsch lediglich eine Woche nach dem großen Desaster im oberen Veltlin. Da verschoben sie Ottavio nacTirano; dort fühlte er sich nicht wohl und zog daher zu Verwandten nach Grosotto, ein Stückchen wieder näher nach Bromio. „Da haben sie mich verscheucht, als sich vor einem Monat der Lago Pola gebildet hat“ - jener durch Geröll– und Schlammrutsche bedingte künstliche See mit mehr als 20 Millionen Kubikmetern Wasser (so groß wie etwa der Walchensee in Bayern), der nun das gesamte untere Adda–Tal bis nach Sondrio bedroht und dessen steigende Wasserhöhenwerte an jedem Rathaus der gut 60 gefährdeten Gemeinden ablesbar sind - eine gespenstige unaufhaltsame Annäherung an den D–Day des Veltlin. Heute fehlen nur noch drei oder vier Zentimeter Höhe und auch nur noch drei bis vier Meter zur vorderen Kante der selbstgebildeten Talsperre - dann geht der See über, reißt die Barriere ein und alles saust zu Tal. Die Zivilschutzkommandos haben alle Arbeiten unterbrochen, die sie seit zwei Wochen zum Bau einer künstlichen Ableitung des drohenden Wasserschwalls durchführen (in der frommen Hoffnung, das Wetter würde, ganz gegen seine Gewohnheit, bis zur Septembermitte stillhalten, so daß die dann fertiggestellte Pipeline den See aussaugen kann): Nun räumen sie nur noch die Bäume und aufgetürmten Bollwerke im Adda–Tal weg, um die Wassermassen nicht zum Ausbrechen zu veranlassen. Mehr als 20.000 Menschen sind derzeit in permanenter Flucht vor dem Schlick und dem Wasser; die genaue Zahl der bisherigen Opfer kennt noch niemand, immer wieder tauchen nach den kaum abbrechenden Unwettern Körper auf, und selbst zwei Monate nach der ersten großen Katastrophe provoziert jeder Regen neue Todesopfer. Diese Woche sind es wieder drei, dazu ein Dutzend Vermißte. Die Bemerkung „Lage unter Kontrolle“ des Zivilschutzmeisters klingt wie blanker Hohn. Ein eigenartiger Kontrast zwischen dem sich eher verstärkenden Gefühl des „finimondo“, des Weltendes in diesem Teil der Erde, und dem unentwegten Schmieden großer Pläne für die Zukunft des Veltlin. Giancarlo z.B. will sein im Lago Pola untergegangeeinstandsetzen und einen Swimmingpool dazubauen“ - als ob von seinem Haus auch nur ein Stein übGianna wiederum, Eignerin einer kleinen Herberge nahe Sondalo, kennt „einen Platz, wo ich mein Haus neubauen werden - da ist die Aussicht noch viel schöner als vorher, wo einer sein Hotel davorgestellt hatte“. Nur, daß es Zugangsstraßen zum Veltlin in frühestens drei, vielleicht erst wieder geben wird, will ihr nicht in den Kopf. Manchmal allerdings überkommt sie doch der Zweifel an der Zukunft: „Verdammt“, schreit sie ihren Mann an, als für das benachbarte Teglio „roter Alarm“ - Dammbruch steht bevor - gegeben wird, „warum sagt uns denn keiner Doch trotz entgegenstehender Gesetze, trotz ständiger Anmahnungen von Sicherheitsvorkehrungen z.B. durch die lombardischen Grünen, hatte sich niemand um die Kassandra–Rufe geschert: Es durfte einfach nicht sein, daß dem Schickeria–Bergtal der Mailänder und Turiner etwas geschieht. Freilich waren dann, als es losging, gerade die Edelhäusleesitzer die ersten, die sich davonmachten, teils mit eigenem Hubschrauber und vorgewarnt durch private Kanäle. „Im Veltlin“, sagt heute der Vorsitzende der „Commissione grandi rischi“, „ist so ziemlich alles falsch gemacht worden, was man falsch machen konnteverkehrsfreundlich begradigt und in Zementbette geleitet - weshalb die sonst versickernden 40 Wassers nun auch zu Tal rasen; nd mantik halber nicht an sichere Plätze, sondern an schöne Aussichtsplätze gestellt. Eine Bauspekulation fast nach Mafia–Art hat sich da entwickelt, wie sich nun herausstellt, mit Schmiergeldern an genehmigende Beamte, Bedrohung von verkaufsunwilligen Besitzern panorama–trächtiger Almwiesen, Druck auf Regional– und Provinzregierungen zur Modifizierung einschränkender Gesetze. Die Aufdeckung dieser Bau– Skandale führt derzeit freilich schon wieder zu einer gefährlichen Konsequenz: Immer mehr setzt sich hier in Sondrio die Meinung durch, man habe zwar sicherlich in der Vergangenheit manches falsch gemacht, aber wenn man diese Fehler vermeide, werde sich schon wieder alles richten lassen. „Nichts“, sagt ein Geologe des Zivilschutzministeriums, der dort vor einigen Jahren wegen sein“aussortiert“ wurde und den man mittlerweile schnell zurückgeholt hat, „nichts geht da mehr in den kommenden drei, vier Jahrzehnten. Erst wenn in Veltlin alle, aber auch alle Erdrutsche runter sind, kann man wieder bauen.“ Dann allerdings wird nicht mehr viel übrig sein von der Romantik; nackte Felsen werden vorherrschen, und allenfalls der im Tal gesammelte Schlamm kann Wert bekommen - als fruchtbarer Ackergrund. So wie das im Veltlin bis in die 50er Jahre auch gewesen war - ehe man statt Landkultivierung nur noch den Kult und die Ausbeutung des Tourismus gesucht hat.
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