Bundesautobahnen: Testrennstrecke für die Welt

■ Ausländische Autofirmen lassen ihre Prototypen in die Bundesrepublik verschiffen, um hier Hochgeschwindigkeitstests durchzuführen / Japaner vorn

Von Nikolaus Müller–Schöll

Die Tachonadel des Wagens klettert auf 250 Stundenkilometer. Noch wenige Sekunden bis zur Höchstgeschwindigkeit. Bäume, Häuser und Hinweisschilder fliegen am Fahrbahnrand der Autobahn wie Schatten vorbei, ein Kleinwagen bleibt als Lichtpunkt im Rückspiegel zurück. Der Fuß des Fahrers klebt am Gaspedal: 300 km/h, Höchstgeschwindigkeit. Hinter dem Steuer sitzt freilich kein jugendlicher Desperado auf dem Weg zur Hölle, sondern der Testfahrer eines großen Automobilkonzerns. Sein „Erlkönig“, wie Testfahrzeuge im Fachjargon der Automobilbranche genannt werden, hat es geschafft. Während sich der überholte Tempo 100–Fahrer noch fragt, wer ihn da, so gespenstisch durch Nacht und Wind rasend, das Fürchten lehren will, kann sich die japanische Herstellerfirma des getesteten Sportwagens bereits freuen. Nach dem erfolgreichen Hochgeschwindigkeitstest auf der deutschen Autobahn kann der Wagen jetzt in Serie gehen. Die Szene ist nicht außergewöhnlich. Unter der Überschrift „Teststrecke Bundesautobahn“ schreibt eine japanische Firma in ihrem gerade erschienenen Prospekt zum 50jährigen Firmenjubiläum: „Was die wenigsten wissen: Die deutschen Autobahnen sind die Teststrecke für Toyota–Fahrzeuge. Bevor ein Auto in die Produktion geht, wird es in Deutschland im Dauereinsatz kompromißlos durchgecheckt. Im letzten beschränkungsfreien Autoland der Welt wird jeder Toyota maximalen Höchstgeschwindigkeiten ausgesetzt und auf seine Autobahntauglichkeit hin sorgfältig durchgetestet.“ Toyota ist kein Einzelfall; die bundesdeutschen Autobahnen sind, wie es scheint, zum Mekka der japanischen Hochgeschwindigkeitstester geworden. Nirgendwo sonst können sie bei regulärem Verkehr so schnell über den Asphalt jagen. Getestet wird oft schon bei kleineren Umbauten, immer aber bei neuen Modellen. Mitsubishi etwa testet nach den Angaben seines Organisationsleiters Gerold Steinmetz jeden Wagen, der auf den europäischen Markt kommen soll, vorher eingehend auf bundesdeutschen Autobahnen. „Das machen alle großen Japaner!“ Schneller als auf der Autobahn ginge es nur auf Teststrecken. Die seien aber „nicht so praxisnah wie normale Straßen“, erklärt Steinmetz. Bei Mitsubishi dauerten die Tests zwischen vier Wochen und einem Jahr. Die Teststrecken lägen überall in der Republik. Ob mit Hochgeschwindigkeit auf der Autobahn gefahren werde, hänge, da es ja etwas riskant sei, vom einzelnen Fahrer ab. Die Tester seien ehemalige Rallye–Fahrer. Von Zeit zu Zeit werde für spezielle Tests der Hockenheimring gemietet. Mit von der Partie sind bei Mitsubishi jedesmal Manager sowie Techniker aus verschiedenen Ländern. Nach dem Autobahntest schickt man die Fahrzeuge nach Japan zurück, wo sie den letzten Schliff für den europäischen Markt erhalten. Getestet wird wohlgemerkt nicht nur bei der Konstruktion komplett neuer Autotypen. Bisweilen werden die Rasereien auch schon bei der Einführung neuer Teile im Land der freien Gaspedale zwischen Flensburg und Berchtesgaden veranstaltet. Auch Mazda–Testfahrer dürfen sich auf deutschen Autobahnen austoben. Michael Dithmer von der deutschen Mazda–Repräsentanz erklärt gar stolz: „Wir waren der erste Hersteller, der als Testkriterium das Fahren auf deutschen Autobahnen eingeführt hat“. Seit 1976 lege jedes neue Fahrzeugmodell, bevor es in Serie gehe, mehrere Millionen Kilometer zurück, davon einige hunderttausend auf den Autobahnen der Bundesrepublik. Besonders beliebt bei Mazda sei die Rhön–Autobahn zwischen Hersfeld und Würzburg. „Auf den weitgezogenen Kurven können dort sehr hohe Geschwindigkeiten erreicht werden“, erläutert Dithmer. Auf Versuchsstrecken könne man den Tagesalltag nie völlig simulieren. Deshalb zögen die Mazda–Fahrer zumeist bei Nacht ihre Bahnen auf den deutschen Fernstraßen, Höchstgeschwindigkeit: 300 Stundenkilometer, „weil manche Einstellungen nur bei solchen Geschwindigkeiten möglich sind“. Die Prototypen sind für die Hochgeschwindigkeitstests bisweilen etwas schneller ausgelegt als die späteren Serienmodelle. Europäische Hersteller sprechen zwar gerade von einer „Teststrecke Bundesautobahn“, getestet wird dort jedoch ebenfalls. Wie Friedrich Schröder, Techniker von Toyota, ausführt, gibt es keinen Unterschied im Testverfahren zwischen europäischen und japanischen Automobil–Herstellern. Das kann der Photograph Hans–Günther Lehmann bestätigen, der regelmäßig für den stern „Erlkönige“ aufspürt, um sie vorab abzulichten: „Es fahren natürlich alle mit ihren Prototypen auf deutschen Autobahnen...“ Bei den deutschen Automobil– Herstellern verweist man dagegen auf die eigenen Teststrecken. Nur dort, so etwa ein Sprecher von Porsche, würden Hochgeschwindigkeitstests durchgeführt. Peter Finken, Pressesprecher des Reifenherstellers Conti und Mitglied des Pressesprecherausschusses beim Verband der deutschen Automobilindustrie, zeigt sich sogar richtiggehend empört über die Toyota–Werbung. Vermutlich wollten die Japaner so ihrem Ruf begegnen, für hohe Geschwindigkeiten nicht tauglich zu sein. „Solche Äußerungen würden, wenn sie ein Deutscher schriebe, innerhalb des Verbandes zu heftigen Diskussionen führen.“ Bei BMW war man da freilich im Frühsommer offensichtlich anderer Meinung. Zur Einführung des neuen Flagschiffs der Firma, des 300 PS starken Zwölfzylinders, lud die Firma gleich 500 Journalisten zur Testfahrt auf die A 7 in Schleswig–Holstein. Begründung: Da dort die Geschwindigkeit nicht begrenzt sei, eigne sich die Autobahn bestens als Teststrecke für die 250 Stundenkilometer schnellen Karossen. Dies rief seinerzeit den schleswig–holsteinischen Innenminister Karl Eduard Claussen auf den Plan. Die Straßen des Landes seien keine Renn– oder gar Teststrecken. „Wegen des zu erwartenden starken Verkehrs“ kündigte er starke Polizeiüberwachung an und drohte: „Wenn dann so etwas passieren sollte, daß zum Beispiel in Kolonne und dann mit 250 gefahren wird, werden sicherlich unsere Polizeibeamten viel zu tun bekommen.“ BMW versicherte daraufhin, man werde die Gäste auf Paragraph 1 der Straßenverkehrsordnung hinweisen. Das Bundesverkehrsministerium zeigt sich zwar nicht glücklich über Autotests auf deutschen Straßen, betont aber, daß man davon auch gar nichts wissen könne: „Grundsätzlich kann jedes Fahrzeug, das ordnungsgemäß zugelassen ist, die Straßen benutzen“, sagt Ernst Vorrath, der Sprecher der Behörde. Entsprechend verfügt man in Bonn auch nicht über Zahlen zum Umfang der Tests auf deutschen Straßen. Unfälle hat es nach Angaben der Autofirmen bei Hochgeschwindigkeitstests bisher noch nicht gegeben. Dennoch scheint man, zumindest bei Toyota, nicht ganz frei von schlechtem Gewissen zu sein: Ihr 50jähriges Bestehen nimmt die Firma zum Anlaß, „unser Scherflein zur Verkehrssicherheit und Unfallrettung in der Bundesrepublik Deutschland beizutragen“. Sie hat der „Björn–Steiger–Stiftung“ ein Fahrzeug gestiftet, um, wie es in einer Presse–Information heißt, „die rührigen Stuttgarter in ihrem Kampf gegen den Unfall– Tod noch mobiler und hoffentlich noch erfolgreicher zu machen.“