Neuer „Kronzeugen“–Fall

■ Der Haftbefehl gegen Andrea B. stützt sich nur auf windige „Kronzeugen“–Aussage / Er wimmelt von Unglaubwürdigkeiten / Die Durchsuchungswelle erinnert an den Skandal um den „Schwarzen Block“

Aus Bonn Oliver Tolmein

Der „Doppelschlag“ gegen den „weiteren Bereich der RAF“, den die Bundesanwaltschaft in den letzten Tagen geführt haben will, scheint nach Informationen der taz eher eine neue Kronzeugenaffäre zu werden. Vor allem der Freitag nachmittag erlassene Haftbefehl gegen die 22jährige Offenbacher Studentin Andrea B. liest sich wie ein Märchen. Er stützt sich allein auf die Aussage eines Dirk S., der sich in West Berlin der Polizei gestellt hat. Nach seinen Aussagen haben Andrea B., eine weitere Frau, nach der die Polizei noch fahndet, und er selbst, kaum daß sie sich kennengelernt haben, Ende August eine „terroristische Vereinigung“ gegründet und wenige Tage später bereits begonnen, den Vorsitzenden Richter am OLG Stuttgart auszuspähen und gleichzeitig einen Brandanschlag auf das Amtsgericht Offenbach vorzubereiten. Der angeblich für den 11. September geplante Anschlag mußte auf unbestimmte Zeit verschoben werden, weil die beiden Frauen der „Vereinigung“ einen unaufschiebbaren unvorhergesehenen „Treff“ gehabt haben sollen. Durchgeführt werden sollte der Anschlag nach Aussagen von Dirk S. mit einer Sprengmischung aus „Unkraut–Ex“, das die Gruppe angeblich in einem Baumarkt geklaut hat, und Puderzucker. Die Utensilien seien, so der Haftrichter am BGH von Gerlach, in einem Erddepot bei Möhrfelden–Walldorf versteckt worden. Frankfurter Startbahn–AktivistInnen verweisen darauf, daß die Polizei im gesamten dortigen Gebiet seit mehreren Wochen mit starken Kräften im Einsatz ist, um Munitionsfunde aus dem 2. Weltkrieg zu beseitigen, die Anlage eines Depots ausgerechnet dort kaum vorstellbar sei. Aber nicht nur das, die merkwürdige schnelle Gründung der Vereinigung und die überaus kurzfristige Aktionsplanung wirken unglaubwürdig. Zweifel machen sich auch an der Person des Kronzeugen fest, der 1984/85 im Knast saß und den Hungerstreik der RAF–Gefangenen unterstützte, aber trotz erheblichen Engagements von Anwälten und antiimperialistischen Gruppen auf Distanz gehalten wurde, weil sich seine angebliche Geschichte und politische Sozialisation als falsch entpuppt hatte. Der BGH–Ermittlungsrichter konnte denn auch beim Haftprüfungstermin als einzigen Grund für die Glaubwürdigkeit des Zeugen anführen, daß der sich selbst belastet habe. Auffällig ist, daß sich S. freiwillig der Polizei gestellt hat, ohne daß er gesucht oder zufällig verhaftet worden wäre. In Frankfurt wird deshalb für möglich gehalten, daß er gezielt auf die linksradikale Szene angesetzt worden ist. Die Hausdurchsuchungen, die am Donnerstag in mehreren Städten stattgefunden haben, stehen ebenfalls in Zusammenhang mit den Aussagen von Dirk S. Alle vorläufig festgenommenen Personen sind aber wieder auf freiem Fuß. Frankfurter Linksradikale fühlen sich durch die Art der Polizei– und Bundesanwaltschaftsaktion an die Großfahndung gegen die angebliche terroristische Vereinigung „Schwarzer Block“ erinnert, als ebenfalls allein die Aussagen eines Kronzeugen, Walter Loos, ausreichten, um zahlreiche Wohnungen zu durchsuchen und mehrere Personen zu verhaften. Damals wurden die Verhafteten freigesprochen - allerdings war die Frankfurter Szene über Monate nur mit Ermittlungsarbeit gegen die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft beschäftigt und damit politisch lahmgelegt. Offensichtlich in keinem Zusammenhang zur Verhaftung von Andrea B. steht nach Informationen der taz die Verhaftung des Bundeswehrsoldaten Peter R. am 10. September. R. wurde offenbar beschattet, seit er am 6. September an einem Infostand aktiv war, an dem auch die antiimperialistische Zeitschrift Zusammen kämpfen auslag. Als er nach einem Treffen im Koblenzer Infoladen eine Plastiktüte mit Sprengzündern, die in der Umgebung jedes Truppenübungsplatzes zu finden sind, in eine Mülltonne warf und dabei beobachtet wurde, lieferte das der Polizei den Anlaß für seine Festnahme. Offiziell heißt es, R. sei beim „Aufbau eines Depots“ als RAF–Sympathisant „enttarnt“ worden.