: Amis fürchten Gorbis neue Friedfertigkeit
■ Meint es der Kremlchef ehrlich mit seinen innen– und außenpolitischen Vorschlägen? Oder reitet er auf einem trojanischen Pferd, aus dem die Kräfte des Kommunismus im richtigen Moment gestärkt herausquillen? Den amerikanischen Medien ist Gorbatschows Politik nicht ganz geheuer
Aus San Francisco Tina Glitz
Wenn es um Nachrichten geht, haben Amerikaner bekanntlich keine sehr lange Konzentrationsspanne, ihre Informationsneugier gilt allenfalls dem eigenen Land. Da aber die neuen Entwicklungen in der sowjetischen Innenpolitik in den Augen der Amerikaner mit dem Schicksal ihres Landes eng verknüpft sind, verschwindet Glasnost nicht aus den Nachrichten. Trotz der unterschiedlichen Schwerpunkte, die in verschiedenen Publikationen oder Sendungen gesetzt werden, integriert die gängige amerikanische Berichterstattung Gorbatschow und Glasnost in das ideologische Raster, das die Wahrnehmung der Sowjetunion färbt. Ergebnis ist, daß der amerikanische Antikommunismus selbst durch sowjetische Reformen geschürt werden kann. Es gibt kein englisches Wort für „Öffentlichkeit“, und der Begriff „publicity“, der von einigen Sowjetexperten bevorzugt wird, trifft nicht den politischen Gehalt des russischen Ausdrucks. Darum wird Glasnost nicht übersetzt, sondern beschrieben als „Offenheit“, „Liberalisierung“, zuweilen sogar als „Demokratie“. Damit wird dem russischen Begriff eine amerikanische Färbung gegeben, die nicht nur sprachliche, sondern auch ideologische Hintergründe und Konsequenzen hat. In den USA ist Glasnost so gut wie identisch mit Gorbatschow. Und Gorbatschow ist der Held im Politthriller Sowjetunion. Reform ist seine Botschaft, Glasnost seine Waffe. Dem Helden Gorbatschow gegenüber bleiben die meisten Beobachter skeptisch: Ist er gut oder ist er böse? Meint er es ehrlich mit seinen innen– und außenpolitischen Vorschlägen? Oder reitet er auf einem trojanischen Pferd, aus dem die Kräfte des Kommunismus im richtigen Moment gestärkt herausquillen? Unheimlicher Kommunismus Die Tagespresse beschäftigt sich hauptsächlich mit Glasnost und wenig mit der gesellschaftlichen Umstrukturierung, Perestroika. Die Vorstellung von einem streng stalinistisch–monolithischen, sogar unheimlichen Kommunismus erschwert es den Amerikanern, ein normales Bild der sowjetischen Gesellschaft zu erlangen. Die Berichterstattung über Peres troika ist von diesen Vorurteilen gefärbt. Eine gründliche Analyse der von Gorbatschow eingeleiteten Umstrukturierung würde bedeuten, daß Amerikaner ihr simples Wahnehmungsraster gegen ein differenziertes Bild der Sowjetunion eintauschen müßten. In Fragen der Offenheit und der Liberalisierung hingegen fühlen Amerikaner sich als Experten. Aber anstatt das sowjetische Demokratieversändnis zu erklären, stülpen Berichterstatter dem Begriff Glasnost eine amerikanische, liberal–demokratische Definition über. Glasnost bedeutet für sie in erster Linie mehr Meinungsfreiheit und weniger Zensur. Die sowjetische Entscheidung, den Radiosender „Voice of America“ ohne Störungen auszustrahlen, wurde zum Beispiel von der Minneapolis Tribune genauso gelobt wie die anstehende Veröffentlichung von Pasternaks Doktor Schiwago. Die von Bill Graham produzierten Moskauer Rockkonzerte wurden vom San Francisco Chronicle als Höhepunkt der Gorbatschowschen Liberalisierung gepriesen. Viele Beobachter sehen sich als befugte Kritiker, die beurteilen können, inwieweit Glasnost einer wahren Demokratisierung ent spicht. Immer neue Beweise und weiterreichende Reformen fordern sie, als ob die Veränderungen ihretwegen unternommen werden. Konstruktive Kritik innerhalb der Sowjetunion, die mit Gorbatschows Reformbestrebungen konform geht, gilt nicht als Zeichen von Liberalisierung. Nur wenn Kritik Elemente echter Opposition enthält und trotzdem toleriert wird, zählt sie als Beweis für Glasnost. Am liebsten werden Versagen, Unterlassungen und Rückfälle in den Medien bemängelt. Die Berichterstattung der New York Times zeigt das deutlich. 400 Juden durften emigrieren, aber Tausende müssen bleiben; Sacharow wurde rehabilitiert, während Unzählige gezwungen sind, weiterhin in Haft zu schmachten; Billy Joel darf in Moskau auftreten, aber nichtkonforme Jugendliche bleiben weiterhin der staatlichen Willkür ausgesetzt. Die ausführliche, leicht sensationelle Berichterstattung über Gegenströmungen zu Gorbatschows Reformen, zum Beispiel über die nationalistische Bewegung Pamyat, zeigt, daß Fehlschläge nicht ungerne gesehen werden. Demokratisierung a la West Soweit Aspekte der Umstrukturierung überhaupt diskutiert werden, unterliegen sie einem ähnlichen Raster. Entweder sie werden als Versuche beschrieben, die Sowjetunion an westliche Vorbilder anzugleichen, oder ihnen wird von vornherein die Möglichkeit der erfolgreichen Durchführung abgesprochen. Das ist nicht verwunderlich: Schließlich könnten erfolgreiche Reformen bedeuten, daß den Amerikanern ihr wichtigster Maßstab abhanden kommt. Gäbe es nicht den schlechten Kommunismus, müßten Amerikaner beginnen, sich mit der eigenen unvollkommenen Wirklichkeit zu messen. Eine demokratische Öffentlichkeit in der UdSSR würde ein zentrales Argument des Antikommunismus zunichte machen. Wirtschaftliche Erfolge im „Reich des Bösen“ würden die Probleme der amerikanischen Wirtschaft noch krasser erscheinen lassen. Selten sind in den Kommentarspalten der Tagespresse Sowjetologen oder Osteuropa–Experten zu lesen, die sich von dem Ausmaß der Umstrukturierung beeindruckt zeigen. Libe rale Publikationen wie The Nation sind zwar von Gorbatschows westlichem Stil fasziniert, aber auch sie sehen Glasnost als einen Versuch, endlich Demokratisierung a la West anzustreben (und somit das idealisierte amerikanische Vorbild nachzuahmen). Obwohl der Großteil der Medien kaum bereit ist, in Gorbatschows Politik einen für welt– und friedenspolitische Entwicklungen hoffnungspendenden Impuls zu sehen, entgeht ihnen das Interesse und der Zuspruch anderer Länder, speziell in Sachen Abrüstung, nicht. Die Presse vermerkt, daß Gorbatschow in Westeuropa größere Anerkennung genießt als der amerikanische Präsident. Sie beobachtet, daß Gorbatschows diplomatische Flexibilität der Sowjetunion im Mittleren Osten zunehmenden Respekt verschafft, und sie kalkuliert den Effekt von Gorbatschows pragmatischer Politik der friedlichen Kooperation und Toleranz in neutralen Ländern der Dritten Welt. Glasnost ein raffiniertes Ablenkungsmanöver? Während Gorbatschows positives Image im Ausland wächst, geht Reagans Ansehen rapide bergab. Weil amerikanische Beobachter zu Recht befürchten, daß jüngste Entwicklungen und Entscheidungen in der eigenen Innen– und Außenpolitik (z.B. Irangate, Unterstützung der Contras) den Blick der Verbündeten und der Drittländer trüben und zu einer Legitimationskrise führen könnten, zweifeln sie an der Legitimität der sowjetischen Reformen. Ist Glasnost nicht nur eine „public relations“–Kampagne, mit der andere Länder geblendet und die eigene Bevölkerung beschwichtigt werden soll? Sind Gorbatschows Abrüstungsvorschläge nicht eine geschickte Langzeitstrategie, die ein neutrales Europa schaffen soll, um so das Bündnis zwischen den USA und Westeuropa zu schwächen? Dergleichen und schlimmeres könne sich hinter Gorbatschows Politik verbergen, deshalb sollte man auch Glasnost nicht vorbehaltlos begegnen. Konservative Beobachter behaupten, daß alle Reformen nur ein einziges Ziel haben, nämlich eine aggressive Großmacht zu Ungunsten der Vereinigten Staaten zu stärken. Norman Podhoretz, dessen politische Kommentare regelmäßig in den großen amerikanischen Zeitungen erscheinen, beschreibt Glasnost als ein raffiniertes Ablenkungsmanöver, das es der Sowjetunion erlaubt, sich zu stärken, um irgendwann richtig mit der Aggressionspolitik loszulegen. Unlängst warnte er die Amerikaner, daß die Sowjetunion unter Gorbatschow nicht weniger gefährlich ist, als sie es in vergangenen Zeiten war. „Reformen zu Hause“, mahnt Podhoretz, bedeuten keineswegs, daß die Russen keine Bedrohung für die Welt darstellen. Einiges deutet darauf hin, daß diese lang vertraute Botschaft beim Durchschnittsamerikaner ankommt: zur Zeit sind zum Beispiel - wie in der Ära vor Gorbatschow - drei antisowjetische Spionage– und Kriegsthriller auf der Bestsellerliste. Andererseits gibt es heute mehr „citizens initiatives“, die direkten Kontakt mit Bürgern der UdSSR suchen. An den Universitäten sind Vorlesungen über sowjetische Politik belegt wie nie zuvor. Eine Gallop– Umfrage zeigt, daß heute über 50 Prozent der Befragten ein „relativ positives“ Bild von Gorbatschow haben (1963 hatten dagegen 91 Prozent eine negative Meinung von Chrustchow). Derartige Entwicklungen zeugen von Interesse, sind aber kein Beweis dafür, daß sich das gängige Bild der Sowjetunion grundsätzlich verän– dert hat. Glasnost ist ideologisch verwertbar. Weil sich dieser Begriff in amerikanische Denkkategorien zwängen und mit amerikanischen Maßstäben messen läßt, kann er sowohl in einen subtilen als auch in einen krassen Antikommunismus integriert werden. Würden sich die Medien gründlicher mit den strukturellen und juristischen Veränderungen in der sowjetischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik befassen, wären sie gezwungen, sich konkret mit den Problemen und Erfolgen der Reformbestrebungen auseinanderzusetzen. Genau das wird jedoch von dem immer noch vorherrschenden ideologischen Wahrnehmungsraster der amerikanischen Tagespresse nicht zugelassen.
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