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„Nackte Gewalt“ in der Oberpfalz

■ Herbstaktionen gegen WAA / Willkürliche Polizeiübergriffe / Berliner Einheiten besonders brutal / Grünen–MdB festgenommen / Demonstrantin mußte sich vor Polizeikamera ausziehen

Aus Schwandorf Bernd Siegler

„Helfts mir, um Gottes Willen, bleibts bei mir!“ Schreie des Entsetzens tönen über den Bismarckplatz in Regensburg, Ort des Polizeipräsidiums Niederbayern/ Oberpfalz. „Er kommt, er kommt“ - die Stimme aus dem Lautsprecher überschlägt sich. „Da ist er. Er ist da, der Schwarze Block.“ Hereingetragen von vier Henkersgestalten kommt ein schwarzer zwei mal zwei Meter großer stoffumspannter Holzquader. Vier nackte Männer, bekleidet nur mit den Masken von Franz– Josef–Strauß, Innenminister Zimmermann und Bayerns Innenstaatssekretär Gauweiler, entsteigen dem Quader und demonstrieren zu den Klängen des Bayerischen Defiliermarsches und des leicht veränderten „Kriminaltangos“ die „nackte Staatsgewalt“. Das ist den bereitstehenden Bereitschaftspolizeieinheiten denn doch zuviel. Sie versuchen die Nackten festzunehmen, um damit dem Freilichtheater „Radio Domschmatz“ vom Donnerstag nachmittag ein Ende zu setzen. Doch umringt von etwa 300 johlenden WAA–Gegnern zieht sich die „nackte Staatsgewalt“ in den Schutz des schwarzen Blocks zurück, um sich danach wieder angezogen unter die Menge zu mischen. Doch beim Theater sollte es während der drei Tage dauernden Herbstaktionen gegen die Wiederaufbereitungsanlage im Großraum Schwandorf nicht bleiben. Die mindestens 5.000 aus mehreren Bundesländern zusammengezogen Bereitschaftspolizisten, BGS–Beamte und - so ein Redakteur der örtlichen Zeitung Neuer Tag - mindestens 1.000 Zivilbeamte versuchen, das Konzept von Polizeipräsident Wilhelm Fenzl in die Tat umzusetzen. „Flächendeckend kontrollieren“ heißt die Devise. Der Großeinsatz betrifft den ganzen ostbayerischen Raum von Amberg bis Landshut und von Neunburg vorm Wald bis Nürnberg, ein Umkreis von bis zu 100 km um das WAA–Baugelände. Baufahrzeuge werden auf ihrem Weg von und zum hermetisch abgeriegelten Baugelände von Polizeikräften eskortiert. In Straßenkontrollen werden Autos durchsucht. Insbesondere Motorradfahrer sind den Schikanen ausgesetzt. Jede kleinere Menschenansammlung in der Nähe einer Straße wird mit dem Einsatz von mehreren Wannen und Jeeps beantwortet. Die Überprüfung der Ausweise dauert bis zu 45 Minuten. Übernachtungsquartiere von auswärtigen WAA–Gegnern werden durchsucht, so in Kronstetten, Anlaufstelle für Robin–Wood– Mitglieder. Was anfangs noch Personalienfeststellung hieß, endete für 81 Demonstranten vor dem Haftrichter. 43 von ihnen wurden von Freitag morgen bis Samstag 18.00 Uhr in Sicherheitsgewahrsam gehalten. Die Beamten der in Kreuzberg erprobten Berliner Sonder–Einheit waren für diesen Einsatz mit schußsiche ren Westen und Knieschützern ausgerüstet. „Wir Oberpfälzer Bürger werden zur Schnecke gemacht“, kommentiert ein Nachbar das Geschehen. „Wenn die so weitermachen, ist uns jeder Chaot von hinten lieber als ein Polizist von vorne.“ Trotz des martialischen Auftretens der Polizei kommt es am Frei tag zu vereinzelten Verkehrsbehinderungen und Blockaden. Im Zuge einer Traktordemonstration bricht der Verkehr auf der B85 gegen elf Uhr zusammen. Rund 100 Personen werden festgenommen, darunter drei Bundestags– und zwei Landtagsabgeordnete der Grünen. Während Fraktionssprecher Hartmut Bäumer von einer Außerkraftsetzung der Immunität spricht, die es in der Art „seit Hitler nicht mehr gegeben hat“, kritisiert Andi Rösing vom Anti– WAA–Büro das Verhalten der Grünen. Die Kreuzung sei entgegen den Absprachen blockiert worden. „Ich habe den Eindruck, die Grünen benutzen die WAA– Gegner als Kulisse für ihre pressewirksamen Auftritte.“ Bis dahin hatte die Polizei 207 Personen in Gewahrsam genommen und von einer Vielzahl von WAA–Gegnern die Personalien aufgenommen. Für Andi Rösing scheint die Erfassung der WAA– Gegner Hauptziel der Polizeiaktivitäten gewesen zu sein. Polizeipräsident Wilhelm Fenzl, der nach eigenen Angaben nur „Auseinandersetzungen vermeiden“ wollte, entschuldigt das überharte Vorgehen vor allem der Berliner Polizeieinheiten mit „Mentalitätsproblemen“. Die willkürlichen Polizeiübergriffe - meist lapidar mit dem Polizeiaufgabengesetz begründet - begannen bereits am Mittwoch abend. Drei Hundertschaften der Bereitschaftspolizei, unterstützt von Sondereinsatzkommandos, kesseln das Koordinationstreffen für die Aktionstage (Auftaktplenum) in der Wackersdorfer Sportgaststätte ein. Nach der Personalienfeststellung können die WAA– Gegner das Lokal wieder verlassen. Am nächsten Morgen um sechs Uhr nimmt die Polizei elf WAA–Gegner aus Berlin in ihrem Übernachtungsquartier bei Stulln fest. Drei mitgereiste Kinder zwischen fünf und sechs Jahren werden von den Beamten zum Jugendamt Amberg transportiert. Begründung für den Einsatz: „Anfangsverdacht für die Vorbereitung von Straftaten“. Noch bevor der erste symbolische Atommülltransport von Nürnberg am Schwandorfer Hauptbahnhof eintrifft, haben die Einsatzkräfte mehrere Häuser durchsucht und 78 Personen zur „Verhinderung möglicher Straftaten“ festgenommen. Noch am gleichen Donnerstag abend wiederholt sich das Schauspiel in der Sportgaststätte Wackersdorf. Das Plenum der Aktionstage mit etwa 300 Teilnehmern wird eingekesselt. Die Stürmung des Lokals durch Berliner Sondereinsatzkommandos kann noch rechtzeitig durch den freiwilligen Auszug der Plenumsteilnehmer vermieden werden. Während im Gastraum Oberpfälzer Bürger ihren Schafkopf (Kartenspiel) unbeirrt weiterklopfen, hat die Wirtin an die WAA–Gegner im Nebenraum appelliert, es zu keiner Keilerei kommen zu lassen. „Flossen hoch, keine Mucken mehr“, werden die Plenumsteilnehmer dann von Bereitschaftspolizisten empfangen. Nach einer Leibesvisitation, vereinzelten Fußtritten und Knüppelschlägen, der Personalienfeststellung und dem obligatorischen Polizeifoto können sie einzeln wieder gehen. Frauen werden dabei von männlichen Polizisten durchsucht. Eine etwa 20jährige Frau muß sich bei laufender Polizeivideokamera bis auf ein dünnes Unterhemd ausziehen und mehrmals ihren Oberkörper entblößen. Vorher sind Pressevertreter und Rechtsanwälte vom Ort des Geschehens entfernt worden.

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