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„We have a dream, too“

■ Mehr als 200.000 Schwule, Lesben (und Heteros) forderten in Washington gleiche Rechte / Ignoranz der Reagan–Regierung gegenüber AIDS beklagt / Nationales AIDS–Mahnmal: Patchwork–Decke mit Namen von Opfern der Epidemie enthüllt

Aus Washington Stefan Schaaf

Es war das größte Coming Out in der Geschichte der USA. Mehrere hunderttausend Menschen - die Schätzungen gehen auseinander - strömten am Sonntag auf der riesigen Rasenfläche vor dem Capitol in Washington zusammen, um für die Schwulen– und Lesbenbewegung das zu erreichen, was den Schwarzen schon vor mehr als 20 Jahren gewährt wurde: gleiche Rechte. Martin Luther King hatte vor 24 Jahren an der gleichen Stelle und vor ähnlich vielen Menschen seine berühmte „I have a Dream“–Rede gehalten; ein Jahr später verabschiedete der Kongreß das grundlegende Bürgerrechtsgesetz, das der Diskriminierung der Schwarzen im öffentlichen Leben ein Ende setzte. Ein entsprechendes Gesetz steht auch im aktuellen Forderungskatalog der Homosexuellen–Bewegung an erster Stelle. Ginny Apuzo, die langjährige Vorsitzende der „National Gay Task Force“ machte diese historische Parallele in ihrem Redebeitrag noch deutlicher. Vor einer unübersehbaren Menschenmenge rief sie auf der Abschlußkundgebung ins Mikrofon: „Wir sind nicht nur im Geist des Stonewall– Aufstandes hergekommen, sondern auch in der Tradition von Selma und Montgomery“, zwei Schauplätzen entscheidender Bürgerrechtsdemonstrationen. Die Riesendemonstration vom Sonntag, die seit Monaten vorbereitet worden war, sollte ein Zeichen setzen, daß Schwule und Lesben in den USA sich nach sieben Jahren Reagan genügend in die Ecke getrieben fühlen, um ihren Frust nach außen zu tragen. Nicht nur hat unter Reagan die religiöse Rechte weiter Auftrieb bekommen, vor allem hat diese Administration die AIDS–Krise ausgenutzt, um neue Schranken für Schwule und Lesben zu errichten, während sie gleichzeitig viel zu lange gezögert hat, den Opfern der Epidemie zu helfen. AIDS–Erkrankte in Rollstühlen, zu Fuß und in Bussen führten den Marsch an, der vom Weißen Haus durch das weiträumig abgesperrte Regierungsviertel zum Capitol führte. Ihnen wurde applaudiert und mit dem Symbol für „Liebe“ in der amerikanischen Taubstummensprache - der geballten Faust mit abgespreiztem Zeige– und kleinem Finger - zu gewunken. Es folgte ein Strom von Gewerkschafts–, Kirchen– und regionalen Kontingenten aus den gesamten Vereinigten Staaten, der auch nach fünf Stunden noch nicht abriß. Jede vorstellbare Subkategorie war vertreten, von den schwulen Mormonen bis zu den „High Tech Gays“ aus dem kalifornischen Silicon Valley, eine knapp fünf Jahre alte Gruppe mit mittlerweile 750 Mitgliedern. Schwule Indianer, schwule Asiaten, lesbische Lehrerinnen oder ein großer Sado/Maso–Block - selten ist deutlicher vor Augen geführt worden, daß Homosexuelle keine „Randgruppe“ sind, die sich weiterhin ignorieren ließe. Die Demonstration war nur der Höhepunkt einer Kette von Veranstaltungen, die am Freitag begann und bis zum Dienstag dauern wird, wenn vor dem Obersten Gerichtshof ziviler Ungehorsam begangen werden soll. Der Supreme Court lehnte vor einem Jahr ab, die altertümlichen Gesetze zahlreicher US–Bundesstaaten außer Kraft zu setzen, durch die analer oder oraler Geschlechtsverkehr unter Strafe gestellt wird. Am Samstag hatten 2.000 schwule Paare in einer gemeinsamen Zeremonie „geheiratet“ und damit eine weitere Forderung unterstrichen: daß homosexuelle Beziehungen vor dem Gesetz mit regulären Ehen gleichgestellt werden und so Pensions– oder Unterhaltsansprüche auch auf schwule PartnerInnen übertragen werden. Neben der Forderung nach gleichen Rechten lagen den TeilnehmerInnen des Marsches aber vor allem die Belange ihrer an AIDS oder „AIDS related complex“ erkrankten Freunde und Verwandten am Herzen. Besonders eine drastische Erhöhung der staatlichen Mittel für die AIDS– Forschung, für Aufklärungskampagnen und die Pflege bereits Erkrankter wird gefordert. Die Mittel dafür, so die Organisatoren, sollten aus dem Militärhaushalt kommen. „Wieviele müssen noch sterben, bevor diese Administration aufwacht?“ fragte Ginny Apuzzo die Menge und schob anstatt einer Antwort hinterher: „Hier unsere Botschaft an Reagan. Es ist eine ganz simple Botschaft, denn sonst würde er sie nicht verstehen: Keine weiteren Verzögerungen mehr, kein Warten mehr auf AIDS–Behandlung, auf AIDS–Forschung, und keine Diskriminierung der Opfer!“ Die Schauspielerin Whoopi Goldberg erinnerte vor allem an das Schicksal von AIDS–kranken Kindern und fragte rhetorisch: „Hat Reagan den vier von AIDS betroffenen Kindern aus Florida, deren Haus einer Brandstiftung zum Opfer fiel, einen Beileidsbrief geschrieben?“ Sie wollte wissen, wie lange es noch dauern werde, bis „die Leute es kapieren - und ich meine intelligente Leute, Senatoren, Abgeordnete“ und „this fucking president“... Aber der Präsident war nicht zu Hause, sondern verbrachte das Wochenende wie üblich in Camp David. So verpaßte er die „Shame on you!“–Rufe vor dem Weißen Haus, er verpaßte Whoopi Goldbergs zornige Rede, und er versäumte auch die Enthüllung eines ungewöhnlichen und bewegenden Mahnmals am Sonntag morgen. Zum erstenmal wurde die zwei Fußballfelder große Patchwork– Decke mit den Namen von 2.000 der bisher 21.000 AIDS–Toten in den USA ausgestellt. Die handtuchgroßen Einzelteile des riesigen Banners wurden in liebevoller Kleinarbeit von Freunden oder Angehörigen der Verstorbenen genäht und dann beim „Names Project“ in San Francisco gesammelt. Freunde Danny Bencivengos etwa nähten seine Jeansjacke auf Stoff, James Siegels Name besteht aus weißen Seidenbuchstaben auf lila Tuch, und an Amador Rolando Gonzalez, einen im Mai diesen Jahres gestorbenen „Lehrer, Freund und Liebhaber“, erinnert ein auf Stoff gemaltes Portrait. Die Leute vom „Names Project“ verstehen ihr Werk als nationales AIDS–Denkmal und vergleichen es mit dem Vietnam–Memorial in Washington und seinen 58.000 in schwarzen Granit gemeißelten Namen der in Südostasien gefallenen US–Amerikaner.

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