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Der Kampf gegen die Schatten der Vergangenheit

Perestroika hat viele Feinde. Warum also auf der Gegenseite noch mehr Kräfte mobilisieren, indem man Zonen des Schweigens der „glorreichen Vergangenheit des Landes (KPdSU–Chefideologe Ligatschow) berührt? Noch im Juni 1986 sagte Gorbatschow in einer Rede, die bis heute in der Sowjetunion unveröffentlicht geblieben ist, vor Schriftstellern: „Wenn wir anfingen, uns mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, würden wir unsere ganze Energie abtöten. Wir würden das Volk vor den Kopf stoßen.“ Und er vertröstete seine Zuhörer: „Wir werden uns schon noch mit der Vergangenheit beschäftigen. Wir werden die Dinge zurechtrücken. Jetzt aber haben wir unsere ganze Energie nach vorn gerichtet.“ Doch die Annahme, es wäre möglich, Energie zu entfalten, ohne sich der Vergangenheit zu stellen, entpuppte sich als Illusion. Die Gegenwart ist noch mit tausend Fäden an die Vergangenheit gebunden. Andere - vor allem Schriftsteller - erkannten das eher als Gorbatschow, doch auch er hat mittlerweile begriffen, daß eine gesellschaftliche, kulturelle, politische Ausweitung des Reformprojekts vor der Geschichte nicht haltmachen kann. Der Januar 1987 brachte dann den Durchbruch - rechtzeitig vor dem Plenum des ZK der KPdSU, auf dem Gorbatschow eine Radikalisierung der Reformpoltik verkündete. Hatten zuvor schon Einzelne, wie die Kulturschaffenden Jewgenij Jewtuschenko, Bulat Okudshawa und Vais Bykow, vor ausgewähltem Publikum Stalins Verbrechen beim Namen genannt, so wurde jetzt die breite Öffentlichkeit mit der Suche nach der Wahrheit konfrontiert: - Im sowjetischen Fernsehen wurde Michail Schatrows vierteilige Serie „Striche für ein Portrait Lenins“ gezeigt, in der seine Mitarbeiter und zeitweiligen Gegner in Einzelfragen (Bucharin, Trotzki) erstmals nicht als dümmliche Karikaturen oder Unpersonen, sondern als Politiker mit ernstzunehmenden Positionen behandelt wurden. Dieser erste Ansatz einer Rehabilitierung ist notwendig für einen viel weitergehenden Versuch: Die Wurzeln der Verbrechen der Dreißiger Jahre auszugraben und Alternativen innerhalb des sozialistischen Systems sichtbar zu machen. In den Moskauer Kinos lief denn auch Tengiz Abuladzes Film „Die Reue“ an, in dem der Terror der Stalin–Zeit künstlerisch verarbeitet wurde, eine Parabel über die Folgen schrankenloser Macht, die auch als Warnung für die Zukunft verstanden werden will. In weni gen Monaten wurde dieser Film allein in Moskau von zweieinhalb Millionen Menschen gesehen. Auf dem Plenum des ZK Ende Januar erklärte dann auch Gorbatschow: „Das Volk braucht die ganze Wahrheit.“ Er meinte damit wohl auch die Vergangenheit, denn zwei Wochen später verkündete er in einer Rede vor den Leitern der wichtigsten Massenmedien: „Weder in der Geschichte noch in der Literatur darf es vergessene Namen oder weiße Flecken geben (...) Namen dürfen nicht vergessen werden, und noch schlimmer ist es, ganze Zeiträume im Leben eines Vokes zu vergessen oder zu verschweigen...“ Dieser Kurs ist innerhalb der Partei gewiß nicht unumstritten. Die Richtlinien zur Vorbereitung des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution etwa, die im März veröffentlicht wurden, lassen von einer Bereitschaft zur selbstkritischen Aufarbeitung der Vergangenheit nichts spüren. Dennoch ist seither Schicht für Schicht abgetragen worden. Die Protagonisten dieser Erinnerungsarbeit haben sich vielfach schon früher engagiert. Jetzt aber haben sie - dank „Glasnost“ - die Möglichkeit, auch öffentlich zu Wort zu kommen. Dabei werden geschichtliche Ereignisse, die bisher als Etappen einer gradlinig aufsteigenden Linie ununterbrochener Erfolge präsentiert worden waren, als Knotenpunkte einer Entwicklung sichtbar, die enorme soziale, politische und moralische Leiden verursacht hat. Leiden, die bei einer anderen Politik zu vermeiden gewesen wären. Vier Themen stehen im Mittelpunkt der Erinnerungsarbeit - Die Kollektivierung Ende der Zwanziger / Anfang der Dreißiger Jahre, durch die die ökonomisch aktivste Schicht des Bauerntums vorgeblich nur „als Klasse“, tatsächlich häufig aber auch als Personen „liquidiert“ wurde und die in die furchtbare Hungersnot von 1932/33 mündete, die Millionen Opfer forderte - Die Repression der Dreißiger Jahre, die mit Prozessen gegen „bürgerliche Spezialisten“ und „menschewistische (sozial–demokratische) Konterrevolutionäre“ begann, mit der Ermordung der meisten „alten Bolschewiki“ fortgesetzt wurde und in der Vernichtung großer Teile der Intelligenz und ihrer Ersetzung durch eine Stalin ergebene „Volksintelligenz“ mündete - Die „Säuberung“ der Roten Armee und Stalins Ignoranz gegenüber Warnungen vor dem bevorstehenden deutschen Angriff 1941, die zu dem militärischen Desaster 1941/42 führte - Die Strukturen einer bis heute dominierenden Geschichtsschreibung, die von all dem nichts wissen will oder es beschönigt. Der Kampf um die Vergangenheit ist keineswegs entschieden, doch die Reformer müssen ihn wagen. Den Grund dafür hat der Theaterregisseur Jefremov so umschrieben: „Der Bremsmechanismus liegt in der Ideologie, den Praktiken und der Moral des Phänomens, das ich ungern Stalinismus nenne, weil das Suffix „–ismus“ es auf einen Sockel zu heben scheint. Das Phänomen besteht aus einem System von politischen und moralischen Koordinaten, die für mich, als menschliches Wesen und als Kommunist, inakzeptabel sind. Sie setzen Verachtung für das Volk und die Behandlung des Individuums als Mittel zum Zweck voraus.“ Dieses System hat Angst erzeugt und erzeugt immer noch Angst, die - wie der Journalist Schcherbakow in der Zeitung des Kommunistischen Jugendverbandes schreibt - „eine unüberschreitbare Barriere für die Bildung staatsbürgerlichen Engagements ist“. Anlaß für seinen Artikel war die Angst seiner erwachsenen Tochter, sich am Telefon kritisch über Mängel der Moskauer Stadtverwaltung zu äußern. Solange diese Angst fortbesteht, ist der Erfolg der Reform nicht gesichert. Zu überwinden ist sie - unter anderem - durch die offene Rede über die Vergangenheit. Walter Süß

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