: San Francisco - Eine Stadt lebt mit AIDS
■ Die „Traumstadt“ gilt in Sachen AIDS als führend / „AIDS kriegt man nicht, AIDS holt man sich“, ist der Grundsatz, mit dem eine Stigmatisierung und Isolierung der Kranken weitgehend verhindert werden konnte / In den letzten Jahren ist eine Vielzahl verschiedenartiger Betroffenenprojekte entstanden
Aus San Francisco Volker Gast
Im Verkaufslager des Modemultis „esprit“ werden T–Shirts mit dem Aufdruck „Be Informed - esprit takes care“ verkauft. Diese Aufforderung, sich zu informieren, erscheint auf den ersten Blick vieldeutig, in San Francisco ist der Sinn jedoch eindeutig auf AIDS bezogen. Während der vergangenen Jahre, in denen die tödliche Immunschwäche „Aquired Immune Deficiency Syndrome“ als Titelgeschichte immer wieder durch die Medien ging, hat AIDS unübersehbare Spuren in der amerikanischen Gesellschaft hinterlassen. Als ein Freund ihres Mannes vor einigen Jahren an der Immunschwäche starb, beschloß auch Susie Thompkins, Firmenchefin von „esprit“, die Möglichkeiten ihrer Firma zu nutzen. Unter anderem wurde die letzte Seite im aufwendig produzierten Trendkatalog der Aufklärung über AIDS gewidmet. Umsatzeinbußen durch das Engagement in Sachen AIDS fürchtet Susie Thompkins im Gegensatz zu ihren europäischen Vertragspartnern nicht. Diese hatten mit Blick auf ein negatives Produkt–Image eine Übernahme der Aufklärungskampagne abgelehnt. Stigmatisierung der Kranken verhindert Im Umgang mit der Krankheit gilt die Ende des 18. Jahrhunderts von den Spaniern als Handelsmission gegründete Stadt weltweit als führend. Im Fluchtpunkt San Francisco, der legendären „Dream Town“ Amerikas, ist nach „Go West“, Goldrausch, den Beatniks und der „Flower Power“–Generation jetzt die Subkultur der Schwulenbewegung eine der glitzerndsten Facetten der Stadt. Seit Harvey Milk, dem ersten Stadtrat, der sich offen zu seinem Schwulsein bekannte und der zusammen mit dem damaligen Bürgermeister von einem konservativen Stadtrat erschossen wurde, hat die „gay community“ erheblich an Einfluß auf das politische Geschehen in der Stadt gewonnen. Als Anfang der achtziger Jahre die ersten AIDS–Fälle bekannt wurden, stellten Schwule und Lesben jede vierte der Wählerstimmen. Auch der Sachverstand im Umgang mit der Krankheit lag überwiegend im Milieu der Homosexuellen, schließlich waren schwule Ärzte und Forscher die ersten, die sich mit dem Phänomen der Immunschwäche auseinander gesetzt hatten. „AIDS kriegt man nicht, AIDS holt man sich“, hat sich seither als Grundsatz eingebürgert, eine Stigmatisierung der Kranken als Infektionsherde, die vom Rest der Gesellschaft isoliert werden müßten, ist in San Francisco weitgehend verhindert worden. In der Stadt gibt es kaum jemanden, der nicht eine Person kennt, die an AIDS erkrankt oder daran gestorben ist. Wie kaum etwas anderes hat die tödlich verlaufende Immunschwäche den politischen Alltag im Bundesstaat Kalifornien beeinflußt. So sind die Aussagen der Politiker, wie sie mit der Krankheit umgehen wollen, durchaus wahlentscheidend. Beispielsweise bei der anstehenden Bürgermeisterwahl in San Francisco. Jeder der Kandidaten hat ein eigenes Programm möglicher Maßnahmen für den Wahlkampf aufgestellt. Auf einer Wahlkampfkundgebung betonte John Molinari, langjähriger Stadtrat und einer der beiden Kandidaten für die Stichwahl im kommendem Dezember, „keine andere Sache wird soviel Zeit, Geld und kreative Lösungen erfordern“. Alle Bewerber haben erklärt, ihr Schwerpunkt liege in der Prävention, im Bereich der Aufklärung. Diese müsse weiter ausgebaut werden, unter der besonderer Berücksichtigung von den Zielgruppen. Mehr Opfer als Vietnam Die Notwendigkeit solcher Maßnahmen wird durch die neuesten Veröffentlichungen der Gesundheitsämter unterstrichen. Im August meldete Dr. George Lemp, Direktor der Statistikabteilung beim Gesundheitsamt, 124 neue AIDS–Fälle im Stadtgebiet. Die Zahl der AIDS–Erkrankten ist damit auf 3.780 seit 1981 gestiegen. Von den Patienten sind nach seinen Angaben bislang 2.236 gestorben. Für die gesamten Vereinigten Staaten gaben die Behörden im Oktober die Zahl mit 45.354 an. Über die Hälfte davon ist bisher gestorben. Die Tendenz ist weiterhin steigend. Nach Schätzungen der Selbsthilfegruppen wird AIDS in den neunziger Jahren mehr Opfer unter der amerikanischen Bevölkerung gefordert haben als der Vietnam–Krieg. „Shanti Project“ In den letzten Jahren ist eine Vielzahl von Projekten entstanden, die den Bedürfnissen der Erkrankten, ihrer Freunde und Familien Rechnung tragen. Eines der bedeutendsten ist das „Shanti Project“, in dem 64 Hauptamtliche und 700 Freiwillige mitarbeiten. Die Aufgaben von „Shanti“ reichen von persönlicher Beratung über Selbsthilfegruppen für „people with AIDS“ bis hin zur Mitarbeit an einer speziellen AIDS–Station im städtischen Krankenhaus. Das von Shanti entworfene „training“, in dem Freiwillige in Wochenendseminaren auf den Umgang mit AIDS–Kranken vorbereitet werden, ist weltweit anerkannt. Mitarbeiter deutscher AIDS–Hilfen gingen eigens nach San Francisco, um sich ausbilden zu lassen und um die Erfahrungen über den Atlantik nach Deutsch land zu bringen. Die Organisation mit einem jährlichen Etat von drei Millionen Dollar unterhält auch ein „residence program“, in dessen Rahmen alleinstehenden AIDS–Kranken ein Dutzend Häuser für Wohngemeinschaften zur Verfügung gestellt werden. Jim Geary, Gründer des „shanti project“ zur Philosophie seiner Arbeit: „Wir geben keine Antworten zu AIDS, wir stellen lediglich den Raum zur Verfügung, um mit der Krankheit umzugehen. Erfolg der Aufklärung Die Busse im Stadtgebiet fahren mit der Aufschrift „Use Condomes“. Im Mission–District, der überwiegend von spanisch sprechenden Einwanderern bewohnt wird, wurden die Aufkleber eigens ins Spanische übersetzt. Riesige Reklametafeln auf den Dächern der flachen Häuser zeigen ein Kind mit der daneben stehenden Aufforderung „Ich habe AIDS. Bitte umarme mich, ich kann dich nicht anstecken“. Siebzehn Millionen Dollar haben die Behörden im letzten Jahr für Behandlung und Aufklärung ausgegeben, fünf Millionen mehr als im Vorjahr. Für die Zukunft zeichnet der städtische Gesundheitsdirektor Dr. Werdegar ein düsteres Bild. Allein die Behandlungskosten für AIDS–Kranke könnten in den nächsten fünf Jahren explosionsartig auf 80 Millionen Dollar im Jahr steigen. Dann leben in der Stadt mit ihren 750.000 Einwohnern zwischen drei und fünftausend AIDS– Kranke. Restriktive Maßnahmen, wie sie Peter Gauweiler mit dem Bayerischen Maßnahme–Katalog im Freistaat einführte, sind in der multi–kulturellen Stadt am Pazifik dennoch unvorstellbar. Wenn ein Nürnberger Gericht Mitte November per Urteil verkündete, es sei „ein Irrglaube, daß Aufklärung allein eine Weiterverbreitung der Kranheit verhindert“, so sind die amerikanischen Fachleute grundsätzlich anderer Auffassung. Timothy Wolfred, Leiter der „San Francisco AIDS Foundation“ verweist auf die Erfolge der zielgruppenorientierten Aufklärungs–Kampagnen. So konnte mit diesen Maßnahmen die Verbreitungsrate des Virus unter den Homosexuellen „auf beinahe Null Prozent“ gedrückt werden. Im Vorjahr hatte sie sich auf fünf Prozent belaufen und 1985 hatte sie noch bei 18 Prozent gelegen. Unterstrichen werden diese Angaben durch das städtische Gesundheitsamt. Es erklärte, die Anzahl der gemeldeten Geschlechtskrankheiten sei dramatisch zurückgegangen. Die Werte werden üblicherweise als Indikatoren für die Weiterverbreitung des AIDS–Virus verwendet. Konservativen Abgeordneten sind die verbreiteten AIDS–Broschüren trotzdem ein Dorn im Auge. Die Auflistung der verschiedenen Sexualpraktiken und der damit verbundenen Infektionsrisiken, die sich in Faltblätter speziell an Schwule und Lesben richten, deklarierten sie kurzer Hand als Pornographie. Sie riefen die Regierung in Washington an, mit der Bitte, die staatlichen Zuschüsse streichen zu lassen. Soziale Bezüge erhalten Werden hierzulande AIDS– Kranke ausgegrenzt, aus Lebensversicherungen ausgeschlossen und in ihrem sozialen Umfeld weitgehend isoliert, in San Francisco wurde einiges zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte getan. Unter anderem verabschiedete der Stadtrat im letzten Jahr ein AIDS–Anti–Diskriminierungsgesetz. Ziel der Maßnahmen ist es, den AIDS–Kranken ihre sozialen Bezüge so lange als möglich zu erhalten und ihnen ein menschenwürdiges Lebensende zu ermöglichen. Dazu gehört, daß sie überwiegend ambulant behandelt werden und entsprechend ihrer gesundheitlichen Verfassung arbeiten können. Susie Thompkins, in deren Firma „esprit“ mehrere AIDS–Kranke beschäftigt sind, erklärt dazu, „die Menschen mit AIDS kämpfen um ihr Leben. Unsere Aufgabe ist, es ihnen so angenehm wie möglich zu machen“. Die Namen der Erkrankten werden zu ihrem Schutz anonym gehalten. Die Belegschaft wurde informiert und mit innerbetrieblichen Veranstaltungen wurde möglichen Ängsten vor einer Ansteckung vorgebeugt. Die Initiative geht zurück auf eine Kampagne der „San Francisco AIDS Foundation“, die sich 1983 unter dem Titel AIDS in the workplace an die führenden Betriebe in der Stadt wandte. Kathryn Armstrong, Gesundheitsbeauftragte der „Bank of America“ bestätigt den Erfolg der Bemühungen. „AIDS in the workplace hat die Angst der Angestellten abgebaut und zu einer produktiveren und entspannteren Arbeitsatmosphäre geführt“.
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