: Die Gewerkschaft aus den Trümmern
■ Mexikanische Näherinnen gründen nach dem Erdbeben 1985 die erste unabhängige Gewerkschaft / Erst die Katastrophe brachte ihre Arbeitsmisere an die Öffentlichkeit / Die Einheit ist von äußeren und inneren Konflikten bedroht - Feminismus oder Diktatur des Proletariats
Vor den vergitterten Toren der „Junta de conciliacion y arbitraje“ (der staatliche Schlichtungsausschuß für Arbeitskonflikte) im Zentrum von Mexiko–Stadt warten etwa 20 Frauen auf ihren Verhandlungstermin. Es sind Näherinnen, ehemalige Arbeiterinnen der Kleiderfabrik „Comercializadora de Industrias“. Alle sind arbeitslos, manche bereits seit eineinhalb Jahren. Im März 1986 wollten sie sich der Gewerkschaft „19 de Septiembre“ anschließen. 28 Näherinnen wurden daraufhin entlassen. Seit Monaten werden sie vom Schlichtungsausschuß mit fadenscheinigen Begründungen von einem Termin auf den anderen vertröstet. Doch ohne dessen Schiedsspruch können sie von ihrem ehemaligen Arbeitgeber keine Entschädigung fordern. Da es in Mexiko keinerlei Unterstützung für Arbeitslose gibt, leben sie am Rande des Existenzminimums und halten sich mit Spenden und Gelegenheitsarbeiten, unter anderem auch mit Prostitution über Wasser. 80 Prozent der Frauen sind alleinstehende Mütter. Warum kämpfen Frauen, denen vor zwei Jahren noch jede Kritik am „patron“ (Arbeitgeber) suspekt und überflüssig vorkam, Frauen, die sich lieber von den „ruhestörenden Aktivistinnen“ distanzierten, heute für die Durchsetzung des geltenden Arbeitsrechts und für freie gewerkschaftliche Arbeit? Haben doch die miserablen Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie jahrzehntelange Tradition: Der 10–11–Stundentag ohne Arbeitsverträge und Sozialversicherung, Überstunden, Nachtarbeit, fehlende hygienische Einrichtungen am Arbeitsplatz sind an der Tagesordnung. Auslöser Erdbeben Doch erst nach den schweren Erdbeben am 19. September 1985 - daher auch der Name der Gewerkschaft - gelangten diese Tatsachen an die breite Öffentlichkeit und erzeugten den notwendigen politischen und sozialen Druck, auf dessen Basis sich der Arbeitskampf entwickeln konnte. Durch das Erdbeben, bei dem nach offiziellen Angaben etwa 6.000, nach inoffiziellen Schätzungen jedoch 50.000 Menschen ums Leben kamen, wurde die Berufsgruppe der Näherinnen mit am stärksten betroffen. Von 700.000 Beschäftigten in der Bekleidungsindustrie verloren 40.000 ihre Arbeit, zwischen 1.600 (offizielle Angabe) und 8.000 (gewerkschaftseigene Schätzung) starben in den Trümmern; etwa 800 Betriebe wurden zerstört. Die unverhältnismäßig hohen Schäden in der Bekleidungsindustrie haben verschiedene Gründe: Erstens konzentrierte sie sich im Zentrum der Stadt, das als das am stärksten erdbebengefährdete Gebiet in Mexiko–Stadt bekannt ist. Zweitens waren viele Betriebe in für diesen Zweck ungeeigneten Hochhäusern untergebracht (in einem achtstöckigen Block waren zum Beispiel 50 Kleinbetriebe angesiedelt). Drittens wurde vielen Arbeiterinnen das Prinzip ihrer Arbeitgeber zum Verhängnis, sie während der Arbeit einzuschließen. Damit nicht genug: Nach dem ersten Erdstoß wurden die Näherinnen zur Weiterarbeit in den einsturzgefährdeten Gebäuden gezwungen, die abends, beim zweiten Beben, dann weitere Tausende unter Trümmern begruben. Bei den Rettungsarbeiten lag den Unternehmern in erster Linie daran, ihre Produktionsmittel zu bergen. Die Hilfeschreie der unter den Trümmern begrabenen Arbeiterinnen verhallten unbeachtet und verstummten teilweise erst nach Tagen. Die Unternehmer eröffneten mit den geretteten Produktionsmitteln an anderer Stelle ihre Betriebe unter neuen Namen. Damit entzogen sie sich der rechtlichen Verantwortung gegenüber den Arbeitslosen oder Verletzten sowie den Hinterbliebenen verstorbener Arbeiterinnen. Nicht zuletzt behielten sie auch die Löhne für die in der Woche vor dem Beben geleistete Arbeit ein. Unabhängig und demokratisch Vor diesem Hintergrund, aus den Trümmern heraus, begannen die Näherinnen, sich zunächst innerhalb der einzelnen Stadtteile und schließlich zentral zu organisieren. Die ersten Forderungen der Gewerkschaft waren: Lohnzahlung für die geleistete Arbeitszeit vor dem 19. September, Wiedereinstellung der Arbeitslosen sowie Entschädigungen für entlassene Arbeiterinnen. Unterstützt wurde sie national und international von feministischen Gruppen, Intellektuellen, StudentInnen, JournalistInnen und linken Parteien. Die breite Öffentlichkeitsarbeit, die allgemeine soziale Unzufriedenheit und der starke innenpolitische Druck veranlaßten sowohl den Arbeitsminister Arsenio Farrel als auch den Führer der stärksten und regierungsloyalen Gewerkschaft CTM (Confederacion de Trabajadores de Mexico), Fidel Velasquez, öffentlich für die Näherinnen einzutreten. Am 20. Oktober 1985 wurde die Gewerkschaft „19 de Septiembre“ offiziell als unabhängige Organisation im Bereich der mexikanischen Bekleidungsindustrie anerkannt, nachdem zwei Tage zuvor 3.000 Näherinnen aus 26 Fabriken zum Präsidentenpalast marschiert waren. Eine einzigartige Entwicklung in Anbetracht dessen, daß das mexikanische Gewerkschaftssystem traditionell (seit 50 Jahren) von „starken“ Gewerkschaften dominiert wird. Die Mitglieder der CTM sind zum Bei spiel gleichzeitig Mitglieder der Regierungspartei PRI. Probleme draußen Doch nach dem ersten schnellen Erfolg präsentieren sich der „19 de Septiembre“ heute massive Schwierigkeiten. Weder die „patrones“ noch der Staat, noch die regierungsloyalen oder gelben Gewerkschaften haben ein Interesse daran, daß das Modell der unabhängigen und demokratischen Gewerkschaft Schule macht. Diese Einigkeit wird unter anderem auch durch politisch einflußreiche Personalunionen gestärkt, wie etwa im Fall des Arbeitsministers Arsenio Farrel, der gleichzeitig Generaldirektor der größten mexikanischen Bekleidungsfabrik, „Organizacion Roberts S.A.“, ist. Doch trotz massiver Bedrohungen, brutaler tätlicher Angriffe, bei denen Knüppel und Pistolen eingesetzt werden, trotz Korruption und harter Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Gewerkschaften, trotz Entlassungen, entscheiden sich immer mehr Näherinnen für die „19 de Septiembre“. Denn durch die offiziellen Gewerkschaften, deren Politik lediglich auf Formalismen beschränkt und arbeiterInnenfeindlich ist, fühlen sie sich nicht länger vertreten. So ist es zum Beispiel keine Seltenheit, wenn ArbeiterInnen zwar wohl wissen, daß ihnen ein Gewerkschaftsbeitrag vom Lohn abgezogen wird, nicht aber den Namen und noch weniger die Politik ihrer Gewerkschaft kennen. Im Gegensatz dazu zeigt die Bilanz des „19 de Septiembre“ nach zwei Jahren einige Erfolge: Den ArbeiterInnen aus 92 Betrieben wurden Entschädigungen gezahlt, in 15 Betrieben wurden Tarifverträge abgeschlossen. Darin wurde die offizielle Wochenarbeitszeit von 48 Stunden (Überstunden nicht mitgerechnet) auf 42 gesenkt, die gesetzlichen Löhne garantiert sowie Sozialleistungen, Krankenversicherung und ordentliche Arbeitsverträge vereinbart. Die Gewerkschaft hat bisher 1.800 ordentliche Mitglieder und etwa 4.500 AspirantInnen. Interne Konflikte Doch die anfängliche Einheit der Näherinnen ist in der Zwischenzeit von internen Konflikten bedroht. Das wurde auf dem II. Nationalen Kongreß der Gewerkschaft im September 1987 in Mexiko–Stadt deutlich. Die Differenzen sind auf die unterschiedlichen Konzepte der Gewerkschaftsberaterinnen zurückzuführen. Auf der einen Seite gibt es die Frauen von der CRI (Colectivo Revolucionario Integral) und andererseits die von der MAS (Mujeres en Accion Sindical). Erstere sehen ihre Aufgabe vornehmlich in der Konstruktion einer revolutionären Basis. Sie wollen die Frauen in den Klassenkampf integrieren, sind jedoch explizit nichtfeministisch. Letztere streben eine intergewerkschaftliche, feministische politische Arbeit an. Die ideologischen Differenzen beider Gruppen haben sich derartig zugespitzt, daß auf dem Kongreß konstruktive Diskussion bereits nahezu unmöglich wurde. Während der dramatische Gefühlsausbruch einer Näherin: „Wir sind doch alle Näherinnen, wir müssen vereint kämpfen!“ am ersten Kongreßtag noch ein einstimmiges „Costureras unidas, jamas seran vencidas“ (Vereinigte Näherinnen werden niemals besiegt werden) auslöste, manifestierte sich am zweiten Tag bei den Vorstandswahlen die Spaltung. Seitdem bestimmen die CRI–Frauen die ideologische Richtung der Gewerkschaftspolitik. Die Diskussion um eine Minderheitenvertretung im Vorstand wurde verworfen. Dazu Cecilia Soto (CRI), juristische Beraterin der Gewerkschaft: „Hier entscheidet die Mehrheit, und wir kämpfen für die Diktatur des Proletariats!“ So haben sie zum Beispiel durch Mehrheitsbeschluß die Gewerkschaftsvorsitzende Evangelina Corona Cadena dazu verpflichtet, mit Hilfe von Namenslisten zu kontrollieren, ob die Gewerkschaftsmitglieder an Versammlungen und Demonstrationen teilnehmen. Wer nicht kommt, muß zur Strafe zwei Tageslöhne abgeben. Eva Corona Cadena geht das gegen ihre Prinzipien: „Die (die CRI–Frauen, d. Red.) lassen die einfache Näherin gar nicht mitbestimmen, die stülpen ihr einfach ihre Konzepte über. Das ist weiblicher Machismo!“
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