: Endlich Friede auf Erden...
■ Ein Traum wird wahr. Auf ihrem dritten Gipfeltreffen wollen Reagan und Gorbatschow Geschichte machen und eine komplette moderne Waffengattung verschrotten. Hinter der neuen Friedfertigkeit verbergen sich jedoch weitreichende Aufrüstungsbemühungen zu Wasser, zu Lande, in der Luft und im Himmel. Trotzdem gibt es einen Grund zum Feiern: Die Verwirrung in den Regierungsetagen bietet der Friedensbewegung neue Chancen, alte Visionen zu beleben
Von Michael Fischer
Was Hunderttausenden trotz langjähriger Mobilisierung und enormer Aktionsbereitschaft nicht gelang, machen der alternde Kriegsfürst Reagan und der forsche Reformzar Gorbatschow morgen wahr. Das Abkommen, das sie in Washington unterzeichnen, soll dazu führen, daß weltweit alle landgestützten atomaren Mittelstreckenraketen (INF) abgebaut werden, falls der US–Kongreß und der Oberste Sowjet den Vertrag ratifizieren. Die Null–Lösung, von Reagan 1981 als billiger Propaganda–Trick ins Spiel gebracht und von der Friedensbewegung jahrelang als solcher kritisiert, wird wider allen Erwartungen verwirklicht. Ein Grund zum Feiern? Für sich betrachtet, ist das Abkommen allemal ein Vertrag der Superlative: Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte wollen die beiden Supermächte die menschenverachtende Aufrüstungslogik durchbrechen und zumindest einen Teil des atomaren Waffenarsenals abbauen. Zum ersten Mal auch einigten sich die Kontrahenten auf eine asymetrische Reduzierung. Während die USA lediglich 800 Sprengköpfe auf ebensovielen Raketen abbauen müssen, wird die Sowjetunion rund 3.000 Atombomben auf 1.200 Raketen verschrotten. Zum ersten Mal stimmten die Vertragspartner auch „beispielhaften und beispiellosen“ Verifikationsmaßnahmen zu, die beiden Seiten Überraschungsinspektionen in gegnerischen Atombombenfabriken und Stationierungsorten erlauben. Obwohl das Abkommen nur knapp drei Prozent der weltweit angehäuften Atomwaffen betrifft, erwarten sich Rüstungsexperten außerdem von dem Abkommen einen Impuls auch auf Abrüstungsverhandlungen über andere Waffengattungen wie die chemischen Waffen und die strategischen Raketen (START). Diese Abrüstungsbemühungen lassen sich die beiden Supermächte einiges kosten. Rund neun Milliarden Dollar haben die USA in den vergangenen Jahren für den Bau, die Stationierung und die Unterhaltung von Pershing–II–Raketen und Cruise Missiles sowie deren Abschußrampen ausgegeben. Die Sowjetunion investierte in ihre SS–22, SS–20, SS–12 und SS–4 angeblich sogar das Dreifache. Für den Abbau der Raketen werden beide Länder noch einmal tief in die Tasche greifen müssen. Um diese Kosten relativ gering zu halten, ließen die Vertragspartner einfach offen, was mit den einzelnen Komponenten der Sprengköpfe - den spaltbaren Materialien, Plutonium und Uran, den Zündern und den Leitsystemen - geschehen soll. Eine Wiederverwendung für andere Waffensysteme ist, so die amerikanische Auslegung des Vertragstextes, nicht ausgeschlossen. Ungewöhnliche Bündnispartner Ob es überhaupt zu einem Abbau der Raketen kommen wird, hängt allerdings von Reagans ehemaligen Parteifreunden im US–Senat ab, die sich von ihrem Präsidenten verraten fühlen und deshalb gegen eine Ratifizierung des Abkommens durch den Senat ins Felde ziehen. Falls es den enttäuschten Republikanern um Kommunistenhasser Jessy Helms und unzufriedenen Demokraten um den konservativen Rüstungsexperten Sam Nunn gelingt, 34 der 100 Se natoren auf ihre Seite zu ziehen, erleidet das INF–Abkommen das gleiche Schicksal wie der 1979 zwischen Jimmy Carter und Leonid Breschnew ausgehandelte SALT–II–Vertrag. Ihm wurde bis heute die nötige Zweidrittelmehrheit versagt. Die Situation scheint so ernst zu sein, daß sich Teile der US–Friedensbewegung schon seit längerem überlegen, ob sie mit dem Weißen Haus gemeinsame Sache machen sollen, um das Abkommen durch den Senat zu puschen. Gegen eine Allianz mit Reagan bestehen allerdings noch große Widerstände vor allem in den radikaleren Friedensgruppen. In den mehr auf Lobby–Arbeit im Kongreß orientierten Organisationen hingegen hält man diesen ungewöhnlichen Schritt für notwendig, nicht nur, um dem angeblich ersten wirklichen Abrüstungsabkommen zum Erfolg zu verhelfen. Die Lobbyisten versprechen sich davon auch die Möglichkeit, die Friedensbewegung wieder stärker ins Gespräch zu bringen, nachdem ihr „Minimalkonsens“, das „Einfrieren“ der nuklearen Rüstung, von den wesentlich weitreichenderen Reykjaviker Vorschlägen Reagans und Gorbatschows überholt worden war. Auch in Westeuropa müssen sich diejenigen Teile der Friedensbewegung, die auf den „europäischen“ Minimalkonsens insistierten, fragen lassen, ob ihre Politik nicht für die Hilflosigkeit der Friedensbewegung angesichts der überraschend von oben verordneten Null–Lösung mitverantwortlich ist. Denn während aus „realpolitischen“ Gründen zu allererst die Stationierung der als Erstschlagswaffen gekennzeichneten Raketen verhindert werden sollte, wurde auf die gleichzeitig stattfindenden tiefgreifenden Veränderungen in der NATO–Strategie und Waffentechnologie nur sehr langsam reagiert. Die ideologische Fixierung auf die Besatzungsmacht USA und der Fraktionszwang in SPD–nahen Friedensgruppen verhinderten zudem über lange Zeit die Einsicht, daß die „Ankoppelung“ an den atomaren Schutzschild der USA durch die Stationierung von Mittelstreckenraketen eine Idee von Ex–Kanzler Schmidt war, auf die sich die Amis nur widerstrebend einließen. Für sie überwog der militärisch–strategische Vorteil nur kurzfristig die Angst, sofort in einen eigentlich auf Europa begrenzbaren Konflikt miteinbezogen zu werden. Chicago für Hamburg zu opfern, ist ein Gedanke, der in den USA trotz aller Lippenbekenntnisse zum Bündnis höchst unpopulär ist. Daß trotz der Fehleinschätzungen in der Friedensbewegung die erbittert bekämpften Raketen jetzt abgebaut werden, ist nicht nur begrüßenswert: Es könnte auch Anlaß für eine selbstkritische Rückschau sein. Der Atomkrieg beginnt unter den Meeren Dank der rasanten Entwicklung in der modernen Waffentechnologie wurden die auf europäischem Territorium stationierten Mittelstreckenraketen schon bald nach ihrer Stationierung obsolet. Genauere Ziel– und Steuerinstrumente ermöglichen den Bau von seegestützten Cruise Missiles, die die Funktion der landgestützten übernehmen können. Bis zu 9.000 dieser Raketen will die NATO stationieren. Nach Ansicht der US–Strategen helfen die neuen konventionellen Waffen, einen möglichen Konflikt auf Europa zu beschränken, weil sie die Schwelle für den Einsatz weitreichender nuklearer Waffen erhöhen und entsprechend die Eskalationsgefahr verringern. Aus dem selben Grund befürwortete die US–Regierung schon vor dem NATO–Doppelbeschluß 1979 den Ausbau und die Modernisierung der in Europa stationierten taktischen Atomwaffen - eine Forderung, mit der jetzt auch die Regierungen in Frankreich und Großbritannien Genscher unter Druck setzen. Ob konventionell oder atomar, die neuen Waffen sind Bestandteil der von Ex–NATO–General Rogers eingeführten offensiven Vorwärtsverteidigung, die in den letzten Jahren zunehmend auch auf die Weltmeere ausgedehnt wurde. Obwohl bereits seit 1980 Pläne für eine maritime NATO–Strategie im US–Kongreß gehandelt wurden, begannen Experten erst letztes Jahr die Diskussion über die Bedeutung dieser Verlagerung. Ziel der „Seekriegs“–Strategie ist es, so der frühere Navy– Generalstabsoffizier Admiral James Watkins, die sowjetischen Atom–U–Boote mit samt ihrer gefährlichen Fracht in den ersten fünf Minuten eines Krieges auf den Grund der Weltmeere zu schicken, wo die mitgeführten Bomben und Reaktoren für Jahrtausende vor sich hin seuchen würden. Die Amerikaner sind angeblich technisch in der Lage, sowjetische U–Boote schon beim Auslaufen in der Barents–See zu orten und auszuschalten, während US–U–Boote von den Sowjets weitgehend unerkannt die Meere durchpflügen. Gekoppelt mit einem einigermaßen wirkungsvollen SDI könnte diese maritime Angriffsstrategie die sowjetischen Generäle arg in die Enge treiben. Als Ausweg bliebe ihnen nur ein Aufstocken der landgestützten Interkontinentalraketen, die von einem Erstschlag relativ geschützt sind und, in großer Anzahl abgeschossen, ein amerikanisches Schutzschild durchlöchern könnten. Frieden im Himmel und auf Erden? Doch gerade diese Raketen will Gorbatschow nun wegverhandeln. Sein Vorschlag, nach der Unterzeichnung des INF–Vertrags gleich noch ein START–Abkommen zur 50prozentigen Reduzierung der strategischen Raketen in die Wege zu leiten, macht nur Sinn, wenn die Sowjetunion in der Lage ist, ein dem amerikanischen SDI vergleichbares System aufzustellen. Einen Hinweis dafür gab der Kreml–Chef selbst, als er vergangene Woche in einem Interview der amerikanischen TV–Gesellschaft NBC „Grundlagenforschung“ an einem SDI–ähnlichen Programm eingestand. Daß auch in der Sowjetunion an SDI gearbeitet wird, war schon vor der Bestätigung durch Gorbatschow bekannt. Daß er jedoch vor amerikanischem Publikum von den sowjetischen SDI–Plänen plauderte, eine Woche vor dem Gipfeltreffen in Washington, hat einen taktischen Grund. Das INF–Abkommen dient auch ihm nur als Vehikel, um die bereits vor einem Jahr in Reykjavik beschlossene Reduzierung der strategischen Raketen voranzutreiben. Dazu ist er jetzt sogar bereit, Reagans SDI–Pläne weitgehend zu akzeptieren. Wieso? Zwei Antworten sind denkbar. Beiden Seiten gemeinsam ist das Interesse, die strategischen Raketen zu reduzieren. Entweder erhoffen sie sich davon eine Stärkung ihrer jeweiligen Abwehrsysteme. Oder sie sind dabei, die strategischen Waffen ebenso wie die Mittelstreckenraketen durch neue, wirksamere Offensivwaffen zu ersetzen, wie es Johan Galtung in der taz vom 28.9.1987 behauptete. Der norwegische Friedensforscher stützt seine These auf die Zeitschrift Scientific American, die in ihrer April– Ausgabe die neuen Angriffswaffen beschreibt: Laser– und Partikelkanonen, die Mikrowellen erzeugen, mit denen umweltfreundlicher und zielgenauer als mit Atombomben Ziele von der Größe einer Stadt wie Washington oder eines Menschen eingeäschert werden können. Nach Galtung waren die Sowjets den Amerikanern bereits in den siebziger Jahren in der Laser– Forschung voraus. In den achtziger Jahren überholten sie nun ihre kapitalistischen Konkurrenten auch auf dem Gebiet der Weltraumtechnik. Damit haben die Sowjets die Voraussetzungen erlangt, im „Sternenkrieg“ mitzumischen. Neue Aufrüstungsära Im Kontext gesehen ist das Abkommen alles andere als ein Abrüstungsvertrag: Es markiert eine neue Rüstungsära zu Wasser, zu Lande, in der Luft und im All, deren Urheberschaft und Förderung sich nicht nur Genscher und Kohl, Thatcher, Reagan und Gorbatschow rühmen. Selbst die Friedensbewegung spricht sich in Erinnerung ihrer eindrucksvollen Menschenketten und unbeugsamen Blockaden Mut zu, die Sektgläser zum großen Tusch zu erheben. Grund für ein Fest gibt es in der Tat. Denn zusammen mit dem Börsenfiasko markiert das INF– Abkommen einen Wendepunkt im Verhältnis zwischen den Supermächten zueinander und zu Europa. Die außenpolitischen Initiativen des Sowjetreformers haben in den NATO–Hauptstädten ein eindrucksvolles Chaos hinterlassen. Sollte Gorbatschow doch angetreten sein, die NATO zu spalten? Geholfen hat ihm dabei allemal sein Gegenpart im Weißen Haus, dessen Wirtschafts–, Finanz– und Rüstungspolitik den Glauben an die Allianz auf beiden Seiten des Atlantiks schwer beschädigt hat. Als Konsequenz des Haushaltsdebakels wird die US–Regierung in den nächsten Jahren ihre militärische Präsenz in Europa verringern. Von dem Abzug der Truppen aus dem „verteidigungsmüden“ Europa versprechen sich führende Politiker beider Parteien eine Sanierung der Staatskasse und stärkere Präsenz in Krisengebieten in der Dritten Welt. Verängstigt würgen nun die NATO–Partner an dem angeblichen Triumph westlicher „Nachrüstungs“–Diplomatie: Zum Entsetzen der Militärstrategen gewinnt das Konzept einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa auch außerhalb der Friedensbewegung an Bedeutung. Bis tief in die Bonner Koalition reicht die Kluft. Der Streit konzentriert sich vor allem auf die Frage, ob die atomaren Kurzstrecken– und Gefechtsfeldwaffen aufgestockt und modernisiert oder ebenfalls abgebaut werden sollen. In dieser Situation wittert der moderate Teil der Regierungskoalition im Verein mit führenden SPD–Politikern Morgenröte für eine Idee, die schon bei Brandts Ostpolitik Pate stand. Da die wirtschaftliche Machtstellung nicht der politisch–militärischen Position Westeuropas entspricht, so der ehemalige Berliner Bürgermeister Stobbe auf einem Seminar der Friedrich–Ebert–Stiftung im Berliner Reichstag, müsse jetzt die Chance zum Aufholen genutzt werden. Sein Parteigenosse, der Bundestagsabgeordnete Heimann führte das Konzept aus: Um den Weltmachtstatus in wirtschaftlicher Hinsicht zu erlangen, müßten neue Märkte in West– aber auch in Osteuropa erschlossen werden - für die deutsche Industrie. Eine militärische Variante der „Europäisierung“ Westeuropas plant indes die Bonner Stahlhelmfraktion im Verbund mit französischen Kollegen. Sie fühlen sich von den USA im Stich gelassen. Gleichzeitig erhoffen sie sich von einer engeren militärischen Zusammenarbeit mit dem französischen Nachbarn eine propagandistische Hilfeleistung für die angeblich zu wenig ausgelasteten Rüstungsindustrien. Und natürlich reizt die Möglichkeit ungeheuer, mit einem Zweitschlüssel zu den in der Bundesrepublik stationierten französischen Bomben doch noch zur Atommacht aufzusteigen. Die Grenzen zwischen den beiden Fraktionen sind fließend. Welche sich letztendlich durchsetzt, ist noch nicht entschieden. Eine spannende Periode der Orientierungslosigkeit in den Regierungsetagen, die die europäische Friedensbewegung für die Verwirklichung eines entmilitarisierten, „entimperialisierten“ und vereinten Europas nutzen könnte.
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