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Eine Ärztin und der „Klassenparagraph“

■ Anfang der 30er Jahre entstand eine Massenbewegung gegen den Paragraphen 218, ausgelöst durch die Verhaftung von Else Kienle und Friedrich Wolf / Im Schatten des prominenten KPD–Mitglieds Wolf geriet die Ärztin und Sexualreformerin Kienle in Vergessenheit

Von Verena Steinecke–Fittkau

1931 wurde in Stuttgart die junge Ärztin Else Kienle zusammen mit Friedrich Wolf, dem bekannten Arzt und Schriftsteller, wegen Verstoßes gegen den Paragraphen 218 verhaftet. Diese Verhaftungen lösten eine der größten Protestbewegungen der Weimarer Republik aus. Else Kienle war eine von den „Neuen Frauen“ der Weimarer Republik, die für sich ökonomische und sexuelle Unabhängigkeit beanspruchten. Über die Frauen ihrer Zeit schrieb Else Kienle:“Die Zeit der Mutterschaft durfte nicht mehr einfach vom Manne festgesetzt werden ... Was nützte ihnen das Stimmrecht, wenn sie trotzdem eine willenlose Gebärmaschine bleiben sollten?“ Da aber der Zugang zu Verhütungsmitteln gesetzlich immer noch eingeschränkt war, die Ärzte den Forderungen nach Aufklärung und zuverlässiger und sicherer Verhütung teils hilflos, teils ablehnend gegenüberstanden, wurde die Abtreibung zur entscheidenden Methode der Geburtenregelung. Die Frauen griffen zu schrecklichen Mitteln und Methoden und nahmen alle nur denkbaren Risiken auf sich. Einen hohen Anwendungsgrad hatten Irrigatoren, die mit Lysolspülungen, Seifenlösungen oder essigsaurer Tonerde gefüllt wurden. Sie sollten das Ausbluten der Gebärmutter hervorrufen. Auch Zyankali gehörte zu den benutzten Mitteln, die Vergiftungen, Entzündungen und Gewebezerstörungen hervorriefen. Über die Zahl der Frauen, die dadurch zu Tode kamen, schwiegen die Kriminalstatistiken. In den 20er Jahren wurden die Todesfälle auf 10.000 jährlich geschätzt. Erste Erfahrungen Else Kienle wird mit dem Problem der Abtreibung konfrontiert, als sie eine eigene Praxis als Fachä Chirurgin zu werden, war für eine Frau praktisch unerfüllbar. Nach ihrer Assistenzarztzeit auf der „Polizeistation“, der geschlossenen Abteilung für Geschlechtskrankheiten in Stuttgart, heiratete sie den jüdischen Bankier Stefan Jacobowitz. Mit seiner Hilfe richtete sie ihre Praxis ein und eine kleine, sechs bis acht Betten umfassende Station. Die einzige Beratungsstelle des Reichsverbandes für Geburtenregelung und Sexualhygiene in Stuttgart ging auf Else Kienles Initiative zurück. In der Stadt und den Vororten hielt sie Vorträge zur Aufklärung der Arbeiterinnen. Während dieser Zeit lernte sie Friedrich Wolf kennen, einen engagierten Arzt und Schriftsteller, seit 1928 Mitglied der KPD. Wolf ist den konservativen Stuttgarter Behörden schon lange ein Dorn im Auge, besonders seit er sich aus öffentlichen Veranstaltungen für Geburtenregelung einsetzt und den „Mord–Paragraphen“ anprangert. Wolf überweist, wie andere Stuttgarter Ärzte auch, Patientinnen, bei de nen er eine „sozial–medizinische Indikation“ verantworten kann, zur Schwangerschaftsunterbrechung in die Klinik von Else Kienle. Er sieht in dem „Klassenparagraphen“ ein Druckmittel des Kapitalismus gegen das Proletariat - Else Kienle eher ein Instrument des Patriarchats zur Unterdrückung von Frauen. Die Verhaftung Das Theaterstück „Cyankali“ von Friedrich Wolf wird in der Weimarer Zeit zum bekanntesten und einflußreichsten Agitationsmittel gegen den Paragraphen 218. Am 6. September 1929 wird „Cyankali“ in Berlin uraufgeführt. Mehr als 100 Aufführungen finden bis Januar 1930 im Lessingtheater statt. Überall, wo das Ensemble anschließend auftrat, löst das Stück erbitterte politische Auseinandersetzungen aus. Die Atmosphäre um den Paragraphen 218 heizt sich auf. Am 28. Januar 1931 treffen sich die Vertreterinnen der Sexualreformbewegung, der kommunistischen Frauenbewegung und unabhängiger feministischer und pazifistischer Gruppen, um eine Kampagne gegen die päpstliche Enzyklika (“Über die christliche Ehe“) und die darin enthaltenen Angriffe auf die Rechte der Frauen zu planen. In diese kämpferische Stimmung des Widerstands fällt am 19. Februar die Verhaftung von Friedrich Wolf und Else Kienle in Stuttgart. Ein Kollege hatte sie denunziert. Die Verhaftungen entfesseln einen Proteststurm. Innerhalb weniger Tage wächst die Koalition der Frauen, die sich gegen die Enzyklika formiert haben und nimmt immer neue liberale, sozialistische und kommunistische Gruppen auf. Gleich nach Friedrich Wolfs Verhaftung organisiert die KPD, die sich an die Spitze der Protestbewegung gesetzt hat, Demonstrationen und Veranstaltungen zur Freilassung von Wolf und Else Kienle. In Berlin wird der „Kampfausschuß gegen § 218 und für Verteidigung Dr. Friedrich Wolfs und Frau Dr. Kienles“ ins Leben gerufen. Am 27. Februar wird Friedrich Wolf gegen Zahlung von 10.000 Reichsmark Kaution auf freien Fuß gesetzt. Else Kienle, die nicht den Vorteil der Prominenz von Wolf hat und auch nicht den Schutz der kommunistischen Partei genießt, muß wegen „Verdunkelungsgefahr“ weiterhin in Haft beleiben. Noch während der Untersuchungshaft beginnt Else Kienle damit, in einem Buch Rechenschaft über Fälle aus ihrer Praxis abzulegen. Am 20. März tritt sie aus Protest gegen ihre andauernde Inhaftierung in den Hungerstreik. Die gerichtliche Pressestelle äußert dazu, „Frau Dr. Kienle habe nicht den Charakter, eine solche Maßnahme durchzuführen“. Nach sieben Tagen ist ihr Gesundheitszustand so kritisch, daß sie am 28. März 1931 wegen Haftunfähigkeit entlassen wird. Die Bewegung zerfällt Nach der Haftentlassung sprechen Friedrich Wolf und Else Kienle für den „Kampfausschuß“ auf vielen Versammlungen im ganzen Land. Am 15. April findet die größte dieser Kundgebungen im Berliner Sportpalast statt. Zwischen 10.000 und 15.000 Menschen drängen sich im Saal. Es ist der Höhepunkt der Kampagne. Ein Spitzelbericht vermerkt mit Bestürzung: „Unter den weiblichen Besuchern konnte man zahlreiche nicht nur besser, sondern auch elegant gekleidete Frauen und Mädchen beobachten.“ Die Anwesenheit dieser Frauen spricht dafür, daß der Abtreibungsparagraph nicht nur ein Beispiel für Klassenjustiz, sondern auch für patriarchale Unterdrückung ist. In diesem Punkt ist Else Kienle eine eher unbequeme Verbündete für die KPD. Nach der Freilassung von Friedrich Wolf und Else Kienle zerfällt die große Koalition im Kampf gegen den Paragraphen 218. Der zunehmende Einfluß der Nationalsozialisten und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise erschweren zudem die Arbeit der Sexualreformerinnen immer mehr. Auch Else Kienle, die in Frankfurt Schwangerschaftsabbrüche nach der gemischten „sozial–medizinischen Indikation“ vornimmt, bekommt das zu spüren. Im Herbst 1932 erhält sie einen Wink, daß sie mit erneuter Verhaftung oder Verfolgung durch SS–Schlägertruppen rechnen müsse. Im Spätherbst flieht sie nach Frankreich. Im Januar 1933 wird das Verfahren gegen sie vorläufig eingestellt. Der öffentliche Kampf der Frauen um die „Menschenwürde und Frauenwürde“ geht im Faschismus unter.

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