Wird Neapels Camorra clean?

■ Neapolitanischer Superboß sagt im Fernsehen allen Drogendealern der Stadt den „Kampf bis aufs Blut“ an / Kehrtwende oder Familiendrama?

Aus Neapel Werner Raith

Die Fernsehzuschauer in Neapels Stadtteil Forcella rieben sich die Augen: Der da einen wütenden Appell gegen Drogengroßhändler und kleine Dealer in die Welt schleuderte, kam ihnen sattsam bekannt vor - aber bislang eher aus anderen Zusammenhängen. Vittorio Giuliano, 39 Jahre, seit Jahren unumschränkt herrschender Camorraboß der Zone und somit auch Oberaufseher über die gesamte Kriminalität des Quartiers, sagte „allen, die sich hier noch einmal mit einem Gramm Droge blicken lassen“, den „Kampf bis aufs Blut an“. „Habt keine Angst mehr vor der Camorra“, rief er, „wir werden euch vor diesem Krebsgeschwür bewahren.“ Spaltung unter den mächtigen Clans der Hauptstadt oder echter Wandel, Einsicht des Chefs einer der mächtigsten „Malavita“–Familien des Landes, die zahllose Killer und Unterweltbosse hervorgebracht hat? Polizei und Justiz sehen zumindest für den aktuellen Aufruf ein durchaus ernstzunehmendes Motiv: Vorgestern war der 17jährige Sohn Giulianos an einer Überdosis gestorben. Die Frage, die sich hier alle Rauschgiftbekämpfer - von den „Müttern gegen Drogen“ über die „Antidrogen–Schüler“ bis zu den zahlreichen Privatdetektiven zum Schutz der Kinder auf dem Schulweg - stellen, ist die nach der Dauer dieser Kampagne. So ganz von der Hand zu weisen ist ein echter Wandel in diesem Sektor nicht: Schon seit Monaten erscheinen just in Giulianos Gebiet immer mehr Wandinschriften gegen die Drogen - und werden nicht, wie in anderen Vierteln, bald mit irgendwelchen Transparenten überklebt oder überpinselt. „Zeigt gnadenlos jeden Drogendealer an“, forderte Giuliano denn auch die Neapolitaner auf, „das ist nicht ein Akt des Mutes, sondern ein Grunderfordernis für unser aller überleben.“ So hehr dies alles klingt - Ermittler fragen sich, wovon denn die Camorrabanden leben wollen, wenn sie den Drogenhandel wirklich aufgeben wollen - umgerechnet an die 12 Milliarden DM Rauschgifterlös fließen alljährlich durch Neapel. Und da erscheint doch eher fraglich, ob Giulianos Appell auch die anderen Bosse des Camorrareiches zur Umkehr bewegt.