Münchhausens Trick–Kiste dringend gesucht

■ In der Heimatstadt des Lügenbarons verschwinden Arbeitsplätze / Bodenwerders größter Betrieb „Rigips“ verlegt die Produktion nach Gelsenkirchen

Von Karl Nolte

Im Herzen des Weserberglands, umrahmt von bewaldeten Hügeln und saftigen Weiden, liegt Bodenwerder, ein 6.000 Einwohner zählendes Gemeinwesen voll beschaulischer Behaglichkeit. Touristen machen hier Tagesrast, um am Ufer der glucksenden Wasser entlangzuflanieren und anschließend das eiserne Denkmal des berühmtesten Sohnes der Stadt, dem legendären Baron von Münchhausen, zu besuchen. Jeden Werktag pünktlich um 13 Uhr verfällt der malerische Stadtkern in einen zwei Stunden dauernden Schlaf, dessen Ruhe nur von herumstromernden Fremden gestört wird. Hinter den restaurierten Fachwerkkulissen allerdings spielt sich ein Drama ab, dessen voraussehbares Ende nichts Gutes verheißt. Es ist die Geschichte einer ungleichen Ehe, die demnächst mit allen Nachteilen für den schwächeren Partner und gegen dessen Willen geschieden wird: Die Stadt lebt in Trennung von ihrem mächtigen Gönner und Ernährer, einem bundesweit bekannten Werk zur Herstellung von Gipsproduktion. Begonnen hatte die langjährige Liaison vielversprechend: 1946 siedelte Bodenwerder die Firma „Rigips“, die mit der Herstellung der gleichnamigen Platten für das Baugeschäft einen guten Riecher hatte und rasch an Größe gewann. Rigips hatte in die Beziehung sein Know–How eingebracht, Durchsetzungsvermögen und das notwendige Geld. Die Stadt gab dafür eine ansehnliche Mitgift in Form reichhaltiger Naturgips–Vorkommen in der Umgebung. Und jahrzehntelang funktionierte, was Bürgermeister Karl–Gerhard Sievers eine „gut geführte Ehe“ nennt: Vom zunehmenden Umsatz der Rigips profitierte die Kommune durch wachsende Steuereinnahmen. Dafür bedankte sich die Stadtverwaltung, indem sie dem Unternehmen bürokratische Hürden und gesetzliche Auflagen aus dem Weg zu räumen suchte. Seit fast drei Jahren hängt der Haussegen schief. Damals - Anfang 1985 - ließ Rigips verlauten, daß man in der Firma Überlegungen zu einem Ausbau der Anlagen oder aber einem völligen Werkneubau anstellte. Kurz zuvor wurde bekannt, daß im Zusammenhang mit dem novellierten Bundes–Immissionsschutzgesetz in naher Zukunft große Mengen schwefelhaltigen Gipses als Abfallprodukt der Rauchgas–Entschwefelungsanlagen (REA) anfallen würden, ab 1990 geschätzte 3,9 Millionen Tonnen jährlich, davon allein im Ruhrgebeit 1,2 Millionen Tonnen. Am 9.Januar berichtete die Lokalzeitung Weserberglandpost erstmals von der sich anbahnenden Katastrophe. Grund war „das Gerücht, die Rigips–Baustoff werke könnten ihren Standort verlegen“. Die Geschäftsleitung taktierte beruhigend und sprach von „langfristig vorbereiteten Brettspielen für Lösungen, die irgendwann einmal für das Unternehmen erforderlich sein könnten“. 410 Arbeitsplätzen drohte plötzlich Gefahr. Die Leser erfuhren, daß eine Schweizer Gesellschaft, die „Intergips“, eigentlicher Eigentümer des Werkes sei. Vier Tage später schalteten sich Gewerkschaft und Betriebsrat ein. In einem offenen Brief an die Geschäftsleitung, die Landesregierung in Hannover und maßgebliche Politiker wurde gefordert, „alles zu tun, um den Standort Bodenwerder zu erhalten“. Die Spitze des Unternehmens dachte schon lange anders. Als die Verhinderungsmaschinerie von Lokalpolitikern, Betriebsrat und evangelischer Kirche gerade ins Laufen kam, platzte in die Kampagne eine Meldung der Weser berglandpost vom 27.März. Danach hatte ein Beamter der Stadt Gelsenkirchen bestätigt, daß „mit diesem Unternehmen (Rigips) seit zwei Jahren um dessen Ansiedlung verhandelt worden sei“. Die Firma hatte der Stadt Hörner aufgesetzt. Anfang Juni dann übergab die IG Chemie der Geschäftsführung der Rigips und dem niedersächsischen Wirtschaftsministerium eine Resolution. Nochmals wurde der Standort–Erhalt verlangt. Diesmal war das Papier von 6.300 Bewohnern Bodenwerders und Umgebung unterzeichnet. Wenig später, am 25.Juni, unternahmen der Superintendent der Gemeinde und der Stadtdirektor einen außergewöhnlichen Versuch. Aus eigener Tasche reisten beide nach Zürich und vesuchten dort, die Konzernleitung zum Einlenken zu bewegen. Die Atmosphäre sei „distanziert–freundlich“ gewesen, berichtete danach Pastor Dietrich Erdmann. Tat sächlich war die Entscheidung eines Werkneubaus bei Gelsenkirchen längst gefallen. „Ich war ein Narr, als ich dort ankam“, sagt der Pastor heute, „aber ich würde es wieder tun, denn die Leute sollen wissen, was anderen Menschen passieren kann, wenn irgendwo in Europa eine Entscheidung fällt.“ Bemühungen der Landesregierung um den Erhalt des Werks in Bodenwerder erwiesen sich als Makulatur. „Intensive Gespräche mit der Geschäftsleitung“ (Wirtschaftsminister Breuel) brachten gar nichts, zur Zahlung der von allen Seiten erhofften Subventionen war Hannover nichtbereit. Unaufhaltsam schwammen den Bodenwerderanern die Felle weg. Bereits damals lag die Arbeitslosigkeit bei 14 Prozent. Im Frühling des Jahres 1987 erreichten die Stadtoberen zwei weitere Hiobsbotschaften: Das im nahen Rühle gelegene Holzwerk „Müller“ mußte nach jahrelangen Streitigkeiten unter den Besitzern Konkurs anmelden, 100 Sägewerker standen auf der Straße. Gleichzeitig gab die „Arminiuswerft“ (160 Mitarbeiter) bekannt, daß der Auftragsbestand eine Aufrechterhaltung des Betriebes nur noch über zwölf Monate zulasse. Heute steht fest: Die zum Veba– Konzern gehörende Muttergesellschaft „Rhenus AG“ will die Werft verkaufen. Neue Aufträge hat das Unternehmen nach Auskunft der Geschäftsführung bis heute nicht aquirieren können. Inzwischen hatten der Landkreis Holzminden, Bodenwerder und die Stadtsparkasse 50.000 Mark in eine neugegründete „Wirtschaftsförderungsgesellschaft“ (wifö) gesteckt, die Firmen–Neuansiedlungen in der Region unterstützten sollte. Den Löwenanteil von 100.000 Mark zahlte Rigips ein, was den Superintendenten jetzt zu der Bemerkung veranlaßt, „die haben sich freigekauft“. Leider hat die wifö, so Stadtdirektor Brünig, „noch nichts Konkretes aufgetrieben“. Auf einem von der Kirche veranstalteten Symposium Anfang August - der Sozialplan für die Rigips–Beschäftigen stand bereits, das Werk war mittlerweise im Besitz der „British Plaster Board“ - kam auch ein Mitglied der Landesregierung zu Wort. „Mobilität“ müsse die Bevölkerung jetzt zeigen, außerdem „die Ärmel aufkrempeln und mit anfassen“, empfahl Oberregierungrat Horst Kliemann den verblüfften Zuhörern. Seitdem fragt sich der Stadtdirektor, „ob die Politik heute noch Antworten auf die Fragen hat, vor denen wir stehen“. Der Haushaltsetat der Stadt ist von 6,5 Millionen Mark 1985 auf 4,2 Millionen Mark in diesem Jahr geschrumpft, und die „werden in Zukunft wohl nicht zu halten sein“, befürchtet Brünig. Von 3.000 Arbeitsplätzen in der Samtgemeinde sind gut 700 extrem gefährdet. Einen Aufstand der Bevölkerung gegen das drohende Desaster hat es bis heute nicht gegeben, obwohl sich der Rigips–Betriebsratsvorsitzende Karl Gerler „Verhältnisse wie in Rheinhausen“ gewünscht hätte. „Die Menschen hier“, glaubt Pastor Erdmann, „haben einfach noch nicht kapiert, was auf sie zukommt.“