: Betteln in Berlin – so wie anderswo auch
■ Kein Gewerbe, nicht verboten, keine Statistik – Betteln ist in der Wohlstandsgesellschaft nicht amtlich / Die Annährung ans Thema klappt nur vor Ort: auf der Straße / Die Sache „pur“ hat Wegguck–Garantie / Mit Tieren bringt es den Mitleidsbonus für die arme Kreatur / „Haste mal ne Mark?“ wirkt am wenigsten
Von Hans Peter Theurich
Das Geld liegt auf der Straße; genauer: in einer speckigen Mütze. Ein paar Fuffziger, Groschen und Fünf–Pfennig–Stücke. Rainer F. kauert an Wertheims Schaufensterfront. Er bettelt. „Ich habe Hunger“, steht auf einem Pappkarton. „Mir tut der Arsch weh vom Sitzen“, sagt Rainer und stochert lustlos im Salat. Ich bestelle uns noch zwei Halbe und für ihn eine Pizza Capricciosa. Mit Plastiktüten bepackt, kommt eine Familie in das Lokal, der Geschäftsführer fummelt am illuminierten Weihnachtsbaum, geleitet die Gäste an den Tisch, hilft der Dame aus dem Pelz. Rainer F. trägt unter dem Jackett einen alten Pullover, ein Hemd mit langem Kragen, unten ausgestellte Hosen; ganz im Trend der siebziger Jahre. Die Bedienung, eingehüllt in eine Wolke aus Parfüm, bringt die Biere. Rainer stinkt. „Auf dein Wohl!“ - „Wenn du meinst“, antwortet er. „Die erste Pizza habe ich vor einem Jahr gegessen. Ich bin aus Ost–Berlin. Aber das interessiert dich bestimmt nicht, oder?“ Beim Sprechen faßt er neben sich, befühlt die Aldi–Tüte mit dem Pappschild, der Mütze und dem Wolldeckchen. „Mein Arbeitsplatz muß warm sein von unten, sonst kriegste Rheuma oder Hämorrhoiden.“ Ich biete ihm eine Zigarette an. „Was willste eigentlich von mir?“ Glücklicherweise kommt die Kellnerin, serviert die Pizza. „Hau rein, Mann“, sage ich, sauge an der West. Beim Essen kann ich ihm nicht zusehen. „Was hast du vor, mal ehrlich?“ schmatzt er mich an. „Ich? Ich verpiß mich jetzt für nen Moment.“ Auf der Toilette riecht es nach hygienischen Steinen im Becken. Zwei Herren am Wasserhahn: „...habe ich ihr gesagt, daß das mit den teuren Geschenken nicht mehr läuft.“ - „Brigitte ist da anders, die kauft ne Jacke, und ich sitz im Sessel und guck blöd aus der Wäsche.“ Der Händetrockner heult auf. Rainer weint, als ich mich wieder zu ihm setze. „Glaubste, ich mach das gern, da rumhocken und betteln?“ - „Nee, glaub ich nicht. Ehrlich.“ - „Ich mache das nur am Mittwoch und samstags halt. Bringt verdammt wenig, und dann der Itacker, der Typ mit der Orgel. Meine Konkurrenz.“ Direkt am Eingang des Kaufhauses Wertheim hat er sich aufgebaut: Keyboard, synthetisches Schlagzeug. Zum stampfenden Disco–Rhythmus singt er Italienisch. Sobald sich jemand aus dem Kreis der Zuhörer löst und eine silbern glänzende Münze in den Bastkorb wirft, bekommt die Stimme mehr Pep. Money makes the world go round. Ein Freund des Alleinunterhalters, eingemummelt in einen schicken Steppmantel, macht die Runde mit dem Bastkorb. Beifall. Der Griff an den Hintern, wo das Portemonaie sitzt. „Mein Bruder hat Knete. Bei dem penn ich zur Zeit.“ - „Noch zwei Biere, bitte.“ Rainer kommt in Fahrt. „Mein Bruder, Mann, da könnte ich dir Sachen erzählen. Versicherungen, das isses. Da wirste reich. Ich selber hab ja nur so zwei, drei Mark die Stunde.“ Er kneift die Augen zusammen: „Was kriegste eigentlich für den Bericht über mich, übers Bet...?“ Geräuschvoll räuspert er sich. „Na ja, für die Zeile wohl fünfzig Pfennig, je nach dem.“ - „Weißte, wie de ne schnelle Mark machen kannst? Ein Vieh brauchste und einen Teppich!“ - „Was?“ Logo. Die Meckerziege auf dem kleinen Bettvorleger, direkt am Forum Steglitz. Kalle hat eine Fahne und rasselt mit der Büchse. Er schwankt leicht. „Das Vieh“, wie Rainer es nennt, steht wie ne Eins und rührt sich nicht von der Stelle. „Ich bin beim Wanderzirkus“, behauptet Kalle. So siehste aus. „Für die armen Tiere“, sagt das Muttchen und nestelt in ihrer Handtasche. Die Ziege kackt verträumt auf den Teppich. „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“ Die Telefonistin im Rathaus Schöneberg weiß nicht so recht, was sie davon halten soll. Wer ist für Betteln zuständig? „Ich verbinde Sie mal mit dem Gewer beamt.“ Im Hintergrund lacht jemand. Dem Herrn vom Amt fällt zum Thema „nischt“ ein. Auch im Polizeireferat für Umwelt– und Gewerbedelikte wird gerätselt. „Verboten ist das ja kaum.“ Der freundliche Beamte raschelt in einem Stichwortkatalog. „Bettelschwindel“, vielleicht komme das in Frage. „Also, wenn jemand unter Vorspiegelung falscher Tatsachen... Nehmen wir mal an, Sie sitzen am Kudamm und haben ein Bein ab, aber das ist nur abgeklemmt. Ja? Oder die Blinden, die gar nicht blind sind, hören Sie?“ - „Ja, ich höre noch!“ - Aber Anzeigen wegen dieses Deliktes seien ihm unbekannt, schließlich handle es sich um kein Gewerbe beim Betteln. Beim Betrugsdezernat: ebenfalls Fehlanzeige. Der Mann am Telefon kennt auch „die armen Kerle, die an der Ecke stehen“. Das sie zwar traurig, aber heute habe das ja niemand mehr nötig. „Es gibt doch Sozialunterstützung, und ein warmes Süppchen bekommt man auch überall.“ Bis morgen früh wolle er sich im Haus umhören, ob einer der Kollegen etwas wisse über Bettler. Richtig vorstellen könne er sich das keinesfalls, bei „den Leuten“ gehe es doch eh nur um ein paar Mark. „Haste mal ne Mark, eh?“ Der Typ in der Lederjacke latscht neben mir mit offener Hand. „Warum? Haste Hunger?“ Aber da verschwindet er schon in der Menge, tänzelt gegen den Strom im U–Bahnhof Möckernbrücke. Ganz Parzival in gestreiften Hosen: Nie sollst du mich befragen! An der Frittenbude holt er sich ein Bier und eine Curry. Seine Freundin zahlt. Die zwei sind gut drauf. Mein Lieblingsjackett hat einen Riß im Ärmel. Das schafft Vertrauen. „Betteln tu ich gah nich, woll!“ Volker stammt aus Do–at–mund. Für ein Wochenende kam er sechsundachtzig nach Berlin. Seine Mutter flennt immer noch, wenn er mal wegen „der Knatter“ zu Hause anruft. „Arbeitslos ist die und so.“ Die Freundin nickt dazu. Sie ist enttäuscht, daß mein aufgebauter Walkman nur ein Mikro dran hat und keine Kopfhörer. „Hol noch was Bier!“ befiehlt Volker. Irgendwie schaffe ich es, das Wort Arbeit fallen zu lassem. Uihuihui! - „Biste vielleicht Sozi–al–abaita?“ - Die beiden mustern mich. - „Seh ich so aus?“ - „Ja!“ Rainer hat mir inzwischen seine gesamte Karriere runtergebetet. Von den Jungen Pionieren drüben zum Sozialamt hüben. Er geht mir auf den Geist. Beim Zahlen flattert mein Lottoschein auf den Tisch des Gasthauses. Jetzt hat Rainer was zu lachen. „Das nächste Bier geht auf meine Rechnung.“ Wir versacken. Am anderen Morgen platzt mir beinahe der Schädel. Auf der letzten Seite des Tagesspiegels gewinnt Karpow, brennt das Klinikum Essen; und außerdem: „Ein Amok laufender Bettler hat am Sonntag in der katholischen St. Patrickskathedrale von Fort Worth im US–Bundes staat Texas zahlreiche Gottesdienstbesucher mit einem Taschenmesser verletzt. Nach Mitteilung der Polizei zog der 28jährige Mann das Messer, lief den Kirchgang entlang und stach auf zahlreiche Gläubige ein. Der Pfarrer teilte mit, nachdem man sich um die Verletzten gekümmert habe, sei die Messe fortgesetzt worden.“ Ich schalte nochmal den Walkman ein. Über die Stereoanlage kommt das Schlurfen der Passanten am Forum Steglitz. Autohupen, der Fischverkäufer, wie er die Aale ins Pergament klatscht, die Hausfrauen anmeiert. Kalles Büchse. Rassel–rassel. „Zwei Kollejen von mia, die machen det ooch mit die Viecha. Am besten is det mit n Lama. Da fahrn die Leute voll druff ab, wa. Nua spucken darf det Tia net. Aba son Lama, det kann ick mia nich leistn. Vastehste? Ick bin doch nich bein Sarrasani! Hauptsache, det Tia sieht mickrich aus, wa!“ Seine Stimme geht unter: der 48er Bus startet, ein Martinshorn jault vorbei. Herr J. vom Betrugsdezernat am anderen Ende. „Also, wissen Se, nee! Da ist nischt zu holen für Sie. Die ganzen Kollegen habe ich gefragt. Aber Betteln in Berlin: nee!“ Da müsse sich einer schon hinstellen, zum Beispiel an die U– Bahn, und beobachten. Wenn dann jemand drei Leute erfolgreich um eine Mark anhaut, dann habe dieser schon das Geld für eine Fahrkarte beeinander. „Dann müssen Sie der vierte sein. Das macht dann vier Mark, eine Karte kostet zwei Mark dreißig.“ - „Das lohnt den Aufwand nicht, polizeilich und so“, sage ich. „Genau!“ Herr J. gerät in Fahrt. Eigentlich täten ihm die Bettler leid. Und da fällt ihm noch eine Geschichte ein. Wie einer die Häuser abgeklappert hat, die Wohnungen. Unten wartete der Chauffeur in der Limousine. Das ist aber mächtig lange her. Ich danke ihm. Er empfielt mir noch die Pressestelle am Platz der Luftbrücke. „Aber die wissen bestimmt auch nicht mehr als ich.“ „Ach, wissen Sie, das Verbot wurde schon vor ungefähr acht, neun Jahren aufgehoben. Statistisch erfaßt das auch niemand. Da hätten wir ja viel zu tun.“ Das kleine Glück im Bariton des Pressesprechers. Das Thema „Betteln“ stimmt die Beamten freundlich, macht sie geradezu auskunftsselig. Betteln ist erlaubt. „Damit kann ich Ihnen leider nicht dienen, mit Informationen und so.“ Reste zum Thema: Ein paar Zettel mit Notizen. Der Typ ohne Beine in Neukölln, Karl–Marx– Straße. Nicht getraut, ihn anzuquatschen. Penner mit zusammengefalteter BZ als Schale. Er zu besoffen. Aufgedonnertes Pärchen. „Wir geben nichts, und dazu sagen wir nichts.“ Ihre roten Ohren. Sein Blick über die Dächer. Die zerknüllte Rechnung aus der Pizzeria: Hintendrauf mit kleiner Handschrift eine Telefonnummer. Es ist spät geworden. Zu spät, um sich einfach so am Ausgang des Lokals zu trennen. Ich trage die saublöde Aldi–Tüte, Rainer legt sich den kleinen Teppich auf den Kopf, weil es nieselt. Die Schloßstraße in Steglitz. Die Ereigniskarte. Ins Gefängnis. Begeben Sie sich direkt dorthin. Sie haben 1000 Mark im Schönheitswettbewerb gewonnen. Wir stützen uns gegenseitig, glotzen die Puppen im Schaufenster an. Ein Kontaktbereichsbeamter geht hinter uns vorbei. „Mittwoch sitze ich wieder hier. Mann, du hast vielleicht eine Fahne!“ Rainer wird sauer. Bevor er im U–Bahnhof Walther–Schreiber–Platz verschwindet, fegt er mich an: „Merk dir das, schreib bloß nicht meinen Namen. Und gib endlich die Tüte her.“ Die Telefonnummer seines Bruders hat er mir auf die Rückseite der Rechnung gekritzelt. Ich brauche keine Lebensversicherung. Oder?
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