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Brief an einen ausgewiesenen Palästinenser

■ Ein offener Brief von Dalia Landau an Bashir Khayri, von Beruf Rechtsanwalt, der Mitte Januar in den Libanon abgeschoben wurde.

Lieber Bashir,

Wir haben uns vor 20 Jahren unter ungewöhnlichen Umständen kennengelernt. Seitdem ist jeder von uns ein Teil des Lebens des anderen geworden. Jetzt höre ich, daß du ausgewiesen wurdest. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, Dir diesen offenen Brief zu schreiben. Zuerst will ich nochmals Deine Geschichte erzählen.

Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 kamst Du mit zwei anderen Menschen, um das Haus in Ramle anzusehen, in dem Du geboren wurdest. Dies war meine erste Begegnung mit Palästinensern. Meine Familie und ich lebten schon seit 1948 in diesem Haus. Wir zogen ein, nachdem Deine Familie gezwungen worden war, das Haus zu verlassen. Wir waren zusammen mit 50.000 anderen bulgarischen Juden in den neuen Staat Israel gekommen, und Euer Haus wurde als „verlassenes Eigentum“ betrachtet.

Nach Eurem ersten Besuch 1967 nahm ich Eure Einladung zu einem Besuch bei Euch in Eurer neuen Heimat Ramallah an, wo ich sehr gastfreundlich empfangen wurde. Wir sprachen stundenlang und bauten eine warme persönliche Beziehung auf. Auf der anderen Seite wurde deutlich, daß unsere politischen Auffassungen sehr weit voneinander entfernt waren.

Aber es ergaben sich einige Veränderungen in meiner Perspektive. Ein unvergeßlicher Tag, als Dein Vater, begleitet von Deinem Bruder, in unser Haus in Ramle kam. Dein Vater war damals alt und blind. Er berührte die unebenen Steine des Hauses. Er fragte dann, ob der Zitronenbaum noch im Hinterhof stehe. Er wurde zu dem vollen Baum geführt, den er viele Jahre zuvor angepflanzt hatte. Er liebkoste ihn und stand schweigend dort. Tränen rannen über sein Gesicht.

Viele Jahre später, nach dem Tod Deines Vaters, erzählte mir Deine Mutter, daß er immer dann, wenn er nachts nicht schlafen konnte, in Eurer gemieteten Wohnung in Ramallah auf und ab ging und in seiner Hand eine verschrumpelte Zitrone hielt. Es war dieselbe Zitrone, die ihm mein Vater bei seinem Besuch gegeben hatte.

Von der Zeit unseres Zusammentreffens an wuchs in mir das Gefühl, daß zu Hause nicht nur mein zu Hause war. Der Zitronenbaum, der so viele Früchte trug und uns so viel Freude bereitete, lebte auch in den Herzen anderer Menschen. Das geräumige Haus mit den hohen Decken, den großen Fenstern und dem großen Grundstück war nicht länger nur ein „arabisches Haus“, eine begehrenswerte Form der Architektur. Hinter ihm waren jetzt Gesichter. Die Wände riefen die Erinnerungen und Tränen anderer Menschen wach.

Es war für mich als junge Frau vor 20 Jahren sehr schmerzhaft, die Wirklichkeit zu entdecken. Zum Beispiel wurden wir glauben gemacht, daß die arabische Bevölkerung von Ramle und Lod 1948 vor der näherrückenden israelischen Armee weggerannt sei und in einer überstürzten und feigen Flucht alles hinter sich gelassen hat. Dieser Glaube beruhigte uns. Er sollte Schuld und Gewissensbisse verhindern. Aber nach 1967 traf ich nicht nur Dich, sondern auch einen israelischen Juden, der persönlich an der Vertreibung in Ramle und Lod teilgenommen hatte. Er erzählte mir die Geschichte so, wie er sie erlebt hatte und wie sie später Yitzhak Rabin in seinen Memorien bestätigte.

Meine Liebe zu meinem Land verlor ihre Unschuld. Sie nahm neue Dimensionen an. Während ich lernte, mit diesen schmerzhaften Tatsachen zu leben, warst Du im Gefängnis. Du warst angeklagt, eine Bombe geworfen zu haben, durch die mehrere Zivilisten getötet wurden. Mein Herz tut mir jetzt noch weh angesichts der Ermordeten. Für Dein Verbrechen hast Du fünfzehn Jahre im Gefängnis gesessen. Wenn ich auf meinem Weg zur Arbeit am Gefängnis in Ramle vorbeiging, habe ich mich oft gefragt, ob Du dort bist. Ich hatte niemals den Mut zu fragen. Es war zu schmerzhaft.

Nach meiner Heirat und dem Tod meiner Eltern, erbte ich das Haus in Ramle. Ich erzählte unsere Geschichte meinem Mann und beide, er und ich, fühlten, daß wir das Haus widmen wollten – einem heilenden Zweck. Wir wollten dies zusammen mit Dir tun, doch wir wußten nicht, ob dies überhaupt möglich sein würde. Nach Deiner Entlassung aus dem Gefängnis trafen wir Dich. Ich hatte das Gefühl, daß Du und ich, Deine und meine Familie durch ein merkwürdiges Schicksal verbunden waren, daß das Haus mit seinen Kindheitserinnerungen uns zwang, uns ins Gesicht zu sehen. Allerdings zeigten die Gespräche, daß trotz der Zeit, die vergangen war, sich Deine Position nicht verändert hatte – und dies macht es unmöglich, eine gemeinsame Basis zu finden. Vielleicht wird eines Tages eine gegenseitige Vergebung möglich werden, wenn wir beide bereit sind, Opfer zu bringen. Wenn Du Dich von Deinen terroristischen Aktionen der Vergangenheit distanzieren könntest, würde Deine Verpflichtung Deinem Volk gegenüber in meinen Augen eine wirkliche moralische Kraft gewinnen.

Einige der politischen Führer von Israel waren in der Vergangenheit Terroristen und haben niemals bereut. Ich weiß, daß das, was wir als Terror von Eu rer Seite sehen, Dein Volk als seinen heldenhaften „bewaffneten Kampf“ mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, betrachtet. Was wir als unser Recht auf Selbstverteidigung ansehen, wenn wir palästinensische Ziele aus der Luft bombardieren und dabei unvermeidlich Zivilisten treffen, siehst Du als massenhaften Terror aus der Luft mit moderner Technologie. Jede Seite besitzt einen Scharfsinn, mit dem sie ihre Positionen rechtfertigt. Wie lange werden wir diesen verwerflichen Kreislauf noch verewigen?

Der erste Schritt heraus aus diesem toten Punkt besteht darin, uns von dem selbstrechtfertigenden moralischen Relativismus zu befreien. Uns wird beigebracht, daß man das Wesen unserer jüdischen Tradition in folgendem Lehrsatz zusammenfassen kann: „Was dir selbst verhaßt ist, das füge keinem anderen zu.“ Solange nicht beide, Juden und Palästinenser dieses grundsätzliche menschliche Prinzip annehmen können, werden wir keine solide Grundlage für eine Koexistenz haben. Diese Grundlage wird das Recht beider Völker auf Selbstbestimmung mit sich bringen.

Du, Bashir bist ein Habash-Unterstützer und lehnst das Selbstbestimmungsrecht meines Volkes in diesem Land ab. Die meisten Israelis haben das Gefühl, daß das Werfen von Bomben wie das Werfen von Steinen durch Palästinenser nicht nur ein Ausdruck von Widerstand gegen die Okkupation ist, sondern eine viel tiefer sitzende Weigerung, einen jüdischen Staat in auch nur einem Teil von Palästina zu akzeptieren. Solange wir diese totale Zurückweisung erleben, werden Du und Dein Volk ihre Unabhängigkeit nicht erlangen. Denn Ihr werdet all diejenigen Israelis vor den Kopf stoßen, die wie ich den plästinensischen Kampf um Selbstbestimmung unterstützen. Leute wie Du, Bashir, tragen eine große Verantwortung für das Auslösen unserer Ängste, die wohl gerechtfertigt sind, wenn man die Entschlossenheit der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) in Betracht zieht, Israel durch einen „säkularen demokratischen Staat“ zu ersetzen und Terror anzuwenden, um dieses Ziel zu erreichen.

Unabhängig davon, was Du in der letzten Zeit gemacht hast, was der Militärregierung nicht gefallen hat: Eine Ausweisung ist eine Verletzung der Menschenrechte und deshalb falsch. Zufällig ist es auch kontraproduktiv für Israel. Die Ausweisungen bewirken nicht nur eine größere Bitterkeit und größeren Extremismus unter den Palästinensern und eskalieren damit die gewalttätigen Konfrontationen, sondern die Ausgewiesenen werden auch von außerhalb größere Freiheit haben, Aktionen gegen Israel zu planen. Du, Bashir, hast schon einmal eine Vertreibung erlebt, als Kind von Ramle. Du bist jetzt, 40 Jahre später, dabei, eine zweite zu erleben, von Ramallah. Du wirst zum zweiten Mal Flüchtling werden. Es kann sein, daß Du von Deiner Frau und Deinen beiden kleinen Kindern Ahmed und Hanin getrennt wirst sowie von Deiner alten Mutter und dem Rest Deiner Familie. Wie können Deine Kinder diejenigen nicht hassen, die ihnen ihren Vater genommen haben? Wird das Vermächtnis des Schmerzes wachsen und sich mit Bitterkeit verhärten, während es durch die Generationen weitergegeben wird? Es ist eine natürliche Reaktion, diejenigen zu hassen, die bewirkt haben, daß wir leiden. Es ist auch eine natürliche Reaktion, Schmerz zuzufügen, weil man selbst Schmerz erlitten hat und dies ideologisch zu rechtfertigen.

In diesem kleinen Land stecken unsere beiden Völker in einer schicksalhaften Umarmung. Ich glaube, daß unsere gegenseitige Entdeckung hier das Potential für eine größere Entfaltung des Lebens hat. Um dieses Potential zu erfüllen müssen wir alle umfassender menschlich werden, was für mich bedeutet, unsere Kapazität zu aktivieren, das Leiden von anderen durch unser eigenes zu verstehen und Schmerz in Heilung zu transformieren. Es scheint mir, Bashir, daß Du jetzt eine neue Gelegenheit haben wirst, eine Führungsrolle zu übernehmen. In seiner Intention, Dich auszuweisen, befähigt Dich Israel eigentlich dazu. Ich appelliere an Dich, die Art von Führung zu demonstrieren, die gewaltfreie Mittel im Kampf um Eure Rechte benutzt, eine Führung, die gegründet ist auf der Erziehung zur Anerkennung Eures Feindes.

Ich appelliere an beide, Palästinenser und Israelis, zu verstehen, daß die Anwendung von Gewalt den Konflikt auf seiner grundlegenden Ebene nicht lösen wird. Diese Art von Krieg kann keiner gewinnen und entweder werden beide Völker die Befreiung erreichen, oder keines von beiden.

Unsere Kindheitserinnerungen, Deine und meine, sind auf tragische Weise miteinander verflochten. Wenn wir nicht Mittel finden, diese Tragödie in eine gemeinsame Wohltat zu transformieren, wird unser Festhalten an der Vergangenheit unsere Zukunft zerstören. Wir werden dann eine weitere Generation einer freudevollen Kindheit berauben und sie zu Märtyrern für eine unheilige Sache machen. Ich bete, daß mit Deiner Kooperation und mit Gottes Hilfe unsere Kinder Freude haben werden an der Schönheit und den Gaben dieses heiligen Landes. Allah maak – möge Gott mit Dir sein. Dalia

Übersetzung Jörn Böhme (der Brief erschien am 14.1.1988 in der Zeitung Jerusalem Post)

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