Der Aufstand in den Krankenhäusern

Das britische Gesundheitswesen steuert unter der konservativen Regierung in eine Krise / Modell der Klassenmedizin wieder im Gespräch / Krankenhauspersonal fordert zusätzliche Mittel für die Gesundheitsvorsorge und droht mit Arbeitsniederlegungen / Premierministerin Maggie Thatcher schaltet auf stur  ■ Aus London Rolf Paasch

Sterbende Babys, klagende Ärzte, erboste Patienten und streikende Krankenschwestern. Seit Wochen beherrscht in Großbritannien vor allem ein Thema die Schlagzeilen: die Krise des staatlichen Gesundheitssystems. Vor 40 Jahren zur klassenlosen Krankenversorgung aller Bürger von der Labour-Regierung unter Attlee gegründet, kann der mit 800.000 Beschäftigten größte Arbeitgeber Europas seinen Auftrag der Gesundheitsfürsorge trotz eines Rekordbudgets von 63 Milliarden Mark nicht mehr nachkommen. Über 700.000 Patienten stehen auf der Warteliste; allein im letzten Jahr wurden fast 4.000 Betten abgebaut; für die dringend notwendigen Lohnerhöhungen des Krankenhauspersonals fehlt das Geld. Doch die Regierung Thatcher zeigt sich weiterhin stur. Die 30 Milliarden Mark, die sich als Resultat einer boomenden Ökonomie plötzlich und unerwartet in des Schatzkanzlers Steuersäcklein befinden, sollen ausschließlich für die im Wahlkampf vers kein Posten vorgesehen.

Dabei war schon im Wahlkampf des vergangenen Frühjahrs angeklungen, daß die Labour Party mit ihrem Plädoyer für eine großzügigere Finanzierung des „National Health Service“ (NHS) Punkte sammeln konnte. Doch am Ende entschieden damals noch andere Themen wie die Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik den Wahlgang zugunsten der Tories.

Mit dem heraufziehenden Winter brach dann aber die allgemeine Empörung über das finanzielle Aushungern der Gesundheitsdienste durch die Regierung Thatcher durch. Anlaß war, wie so oft in Großbritannien, eine im wahrsten Sinne des Wortes herzzerreißende Titelstory in den Boulevardblättern: die skandalöse Geschichte des „hole in the heart baby“, eines Säuglings, der nach fünfmaliger Verschiebung seiner Operation schließlich an seinem Herzfehler verstarb. Plötzlich waren die Kürzungen im Gesundheitswesen, der Mangel an qualifizierten Fachkräften in aller Munde. Eltern gingen vor Gericht, um die zügige Behandlung ihrer Kinder auf juristischem Wege zu erzwingen; Abgeordnete aller Parteien konfrontierten die Premierministerin im Parlament mit neuen Hiobsbotschaften über die Misere in den regionalen Gesundheitsdistrikten; eine Delegation von Ärzten, Professoren und führenden Repräsentanten des Gesundheitswesens tauchte im Dezember mit einer von 1.200 Kollegen unterzeichneten Petition vor dem Regierungssitz auf, um die Eiserne Lady – die ihre Rostflecken und andere Wehwehchen lieber in Privatkliniken behandeln läßt – auf die Malaise im staatlichen Gesundheitssystem aufmerksam zu machen. Ohne großen Erfolg. Frau Thatcher beantwortete die Vorwürfe in der Fragestunde des Unterhauses wie üblich mit der rituellen Litanei konservativer Erfolgsmeldungen: Unter der jetzigen Regierung gebe der Staat mehr für die Gesundheit seiner Bürger aus als je zuvor; der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt sei auf 5,5 Prozent gestiegen und das Krankenhauspersonal habe in den beiden letzten Jahren überduchschnittliche Lohnzuwächse erzielt. Der Gesundheitssektor sei halt ein Faß ohne Boden, ein Problem, dem man nicht mit zusätzlichen Millionen, sondern nur mit einer administrativen Reform zum effektiveren Einsatz der gegenwärtigen Ressourcen zu Leibe rücken könne.

Diese Mär, zu der auch ein „unheilbares Krankheitsbedürfnis“ der Briten gehört, sieht bei näherem Anschauen der Zahlen, die die Opposition vorlegt, ganz anders aus.

Seit Amtsantritt der Regierung Thatcher wurden in der Krankheitsfürsorge zwölf Milliarden Mark gespart, ging die Zahl der Betten um 15 Prozent zurück. In jedem Jahr, so argumentieren die Verwalter des heruntergewirtschafteten Systems, stünden neue Entscheidungen darüber an, in welchen Bereichen und auf Kosten welcher Patienten weiter gespart werden muß. Dabei geben die Briten für ihre Gesundheit nur rund halb soviel aus wie die USA oder die BRD.

Um das gegenwärtige Niveau der Krankenfürsorge aufrechterhalten zu können, bräuchte der NHS eine Etaterhöhung um jährlich zwei Prozent. Kein Wunder, daß sich unter Maggies Ägide die Zahl der aus dem NHS ausgestiegenen Privatpatienten auf zehn Prozent verdoppelt hat. Kritiker aus den Reihen der Labour Party vermuten gar, die Regierung wolle den NHS absichtlich zugrunde richten, um anschließend radikale Vorschläge zur Privatisierung des staatlichen Gesundheitsdienstes – und damit der letzten Bastion der Kollektivfürsorge des britischen Wohlfahrtsstaates – durchsetzen zu können. Bereits seit Jahren basteln die „think tanks“ konservativer Institute an Alternativmodellen, nach denen rivalisierende Gesundheits-Einheiten auf dem freien Markt der Krankheiten um die Gunst der Patienten wetteifern. So schlug das rechtsgerichtete „Adam Smith Institute“ Mitte Januar Maßnahmen zur Aufhebung der Trennung zwischen staatlicher und privater Gesundheitsfürsorge vor, an deren Ende mit ziemlicher Sicherheit die Wiedereinführung der Klassenmedizin stehen dürfte. Der Vorwurf eines gezielt politischen Kalküls unterstellt der Regierung allerdings eine Fähigkeit zur strategischen Planung im Gesundheitssektor, von der nirgendwo etwas zu sehen ist. Im Gegenteil. Wenn sich die Gesundheitspolitik der Regierung Thatcher durch eines auszeichnet, dann durch ihren Mangel an Planung und strategischem Denken, mit katastrophalen Folgen für Krankenhausver waltung und Patienten. Das Gesundheitssystem wurde im Gegensatz zu allen anderen Bereichen staatlicher Planung acht Jahre lang völlig unangetastet gelassen, wenn man von den monetaristisch begründeten stetigen Mittelkürzungen einmal absieht, die kaum als Politikersatz firmieren können. Und auch die gegenwärtige Diskussion über den NHS ist der Regierung von Patienten und den Berufstätigen im Gesundheitssektor aufgedrängt worden, und nicht etwa umgekehrt.

Dies könnte für die Auseinandersetzungen, die der Regierung jetzt bevorstehen, von großer Bedeutung sein. In noch keinem industriellen oder politischen Konflikt der letzten Jahre hat sich die Regierung so hilflos gezeigt wie gegenüber den spontanen Protesten im Gesundheitssektor. Im Dezember versuchte Gesundheitsminister John Moore vergeblich, seine Kritiker mit einer zusätzlichen Finanzspritze von 300 Millionen Mark für den NHS zu beschwichtigen. Auch im Streik der Angestellten des Bluttransfusions-Dienstes gab die Regierung kampflos nach.

Seitdem kommt es in allen Landesteilen aus unterschiedlichen Gründen zu spontanen Aktionen des Krankenhauspersonals. In Schottland gingen Schwestern und Pfleger aus Protest gegen die Privatisierung der Reinigungs- und Essensdienste in den Krankenhäusern auf die Straße. In Mittelengland demonstrierten die Beschäftigten gegen die Stillegung ganzer Abteilungen und Operationseinheiten. Und in London drohten die „Angry Angels“, wie der Observer unlängst die sonst so devoten Krankenschwestern nannte, für den heutigen 3. Februar mit einer Arbeitsniederlegung. Um sich überhaupt eine Wohnung leisten zu können, müssen viele der Londoner Krankenschwestern ihren kärglichen Lohn für den anspruchsvollen Schichtdienst nach Dienstschluß durch Nebenjobs aufbessern. „Wer heute noch diese Ausbildung anfängt“, so formulierte es eine Schwester im Londoner St. Bartholomews Hospital nach ihrem Streikvotum in dieser Woche, „der muß verrückt sein.“ 30.000 PflegerInnen haben allein im letzten Jahr Großbritannien oder ihren Beruf den Rücken gekehrt.

Kein Wunder, daß die Proteste auch in der Bevölkerung auf Verständnis stoßen. 86 Prozent der Briten würden sogar zusätzliche Gesundheitsausgaben den für März versprochenen Steuererleichterungen vorziehen. Sollte der Streikaufruf am heutigen Mittwoch in London erfolgreich befolgt werden und zu weiteren Protesten in anderen Landesteilen führen, dann sähe sich die Regierung Thatcher ihrer bisher größten Herausforderung seit dem Ende des Bergarbeiterstreiks vor zwei Jahren gegenüber. Mit dem Unterschied allerdings, daß die Sympathien der Öffentlichkeit diesmal ganz bei den zornigen Engeln in ihren Kitteln und Häubchen liegen.