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Die „harte Phase“ des Lagerkriegs ist vorbei“

Erstmals seit 16 Monaten konnten Journalisten das Palästinenserlager Rashediyeh im Südlibanon besuchen / Medizinische Versorgung der 17.000 Bewohner noch immer katastrophal / Härtere Auseinandersetzungen mit Israelis befürchtet  ■ Aus Rashediyeh Petra Goll

„Während der Bombardements im vergangenen Winter haben die Krankenschwestern hier im Treppenhaus gschlafen“, Dr. Satah hockt sich auf die unterste Stufe. „Hier auf dem Absatz lagen zwei, als die Granate einschlug...“ er deutet auf den Einschuß. „...wir haben noch immer keinen einzigen wirklich sicheren Raum im ganzen Krankenhaus.“

Die medizinische Versorgung der etwa 17.000 Bewohner des palästinensischen Flüchtlingslagers „Rashediyeh“ im Südlibanon war nicht nur in Zeiten des „Lagerkriegs“ katastrophal. Die Berichte Dr. Satahs, des einzigen Arztes, der vom 10.09.86 bis zum Spätsommer 1987 im Camp arbeitete, hören sich an wie Erzählungen aus einem anderen Jahrhundert: Amputation mit Küchenbestecken, Röntgenaufnahmen konnten nicht gemacht werden, Kopf-, besonders Augenverletzungen, konnten so gut wie nie erfolgreich behandelt werden. Das UN-Hilfswerk für Palästina- Flüchtlinge (UNRWA) hat mittlerweile in der größtenteils zerstörten Krankenstation eine Tagespraxis eröffnet. Eine junge libanesische Ärztin versorgt täglich in sechs Stunden zwischen 100 und 150 Patienten. Doch wird der Schiitin aus einem der nahen Bergdörfer von den Camp-Bewohnern mit Mißtrauen begegnet, war es doch die Schiitenmiliz Amal, die mit syrischer Rückendeckung den Lagerkrieg gegen die Palästinenser führte. Die Kooperation zwischen der UNRWA-Krankenstation und dem Hospital des palästinensischen Roten Halbmondes läuft zudem nach Aussagen Dr. Salahs „gleich Null“. Eine haarsträubende Tatsache, denn die Be dingungen haben sich auch nach dem offiziellen Ende der 16monatigen Belagerung Rashediyehs nur wenig gebessert. Nach wie vor kontrollieren Angehörige der Amal-Miliz alles, was die Frauen ins Camp tragen, Medikamente und Verbandsmaterial müssen noch immer ins Krankenhaus geschmuggelt werden. „Zwei Tage, nachdem Amal-Chef Berri die Aufhebung der Blockade verkündet hatte, brachte eine Krankenschwester fünf Liter Alkohol für das Krankenhaus, die bis auf den letzten Tropfen auf die Erde am Checkpoint vergossen wurden,“ berichtet Dr. Salah bitter. Seit kurzer Zeit erfährt er immerhin Unterstützung durch ein skandinavisches Medizinerteam, zwei Ärzte und eine Krankenschwester, die bereitwillig ihre Eindrücke schildern: „Als ich ankam, habe ich erwartet, palästinensische Helden zu treffen, Leute, die der montelangen Belagerung, den Gefechten, dem Hunger, widerstanden haben“, lächelt Doktora Judith. „Dann erfuhr ich, daß sie nebenbei auch ganz normale Men schen, mit ganz normalen Bedürfnissen und Schwächen sind. So zum Beispiel, wenn das wenige Benzin oder Diesel, das ins Lager gebracht werden kann, nicht etwa im Krankenhaus landet, wo wir oft keine Röntgenaufnahmen machen können, keinen Strom haben, weil wir die Generatoren nicht versorgen können. Allein der Gedanke, daß die Leute damit ihre Autos an werfen, oder ihre Autobatterie aufladen, um eine Nachtlang Fernsehen zu können, allein das zu begreifen ist verdammt schwer.“

Die doppelte Bedrohung des Camps durch Amal und die von Israel aufgebaute „südlibanesische Armee“ bestimmt die politische Atmosphäre in Rashediyeh. „Amal versteht Rashediyeh als Bedrohung ihrer Hegemonie im Südlibanon“, erklärt Maarouf, ein Vertreter des „Lagerkomitees“, der obersten Instanz für politische und administrative Angelegenheiten. „Unsere nackte Existenz bedeutet, daß es hier keinen Frieden geben kann, denn Rashediyeh ist auch eine Bedrohung für die von Israel eingerichtete Sicherheitszone“. Die harte Phase des „Lagerkriegs“ ist vorbei, da ist man sich einig im „Lagerkomitee“, der Dauerzustand der Belagerung aber längst nicht. Das liegt schon allein an der geographischen Isoliertheit Rashediyehs im tiefen Südlibanon. „Die von Amal geforderte Entwaffnung des Lagers ist für uns völlig indiskutabel,“ erklärt denn auch Maarouf.

„Wir erwarten, daß die Auseinandersetzungen mit den Israelis wieder härter werden, denn wir sehen eine Wechselwirkung zwischen dem Lagerkrieg und den Aufständen in der Westbank und Gaza. Dort hat man erfahren, unter welchen Bedingungen wir hier durchgehalten haben, jetzt sehen wir, daß auch in Palästina der Widerstand lebt. Wir sind uns wieder näher gekommen.“

Ein Rundgang durch das weitläufige Camp mit seinen Obst- und Gemüsegärten erhellt eine weitere politische Besonderheit Rashediyehs: Kein Poster, kein Plakat, keine Graffiti oder Parolen, vor denen in den Beiruter Camps Chatila und Bourj-el-Brajneh selbst die letzten Ruinen nur so strotzen.“Interne Konflikte und politische Zersplitterung kann sich Rashediyeh nicht leisten“, erklärt Maarouf. „Natürlich gibt es in Rashediyeh sämtliche palästinensischen Parteien, wie in jedem anderen Lager auch, doch die alltägliche Gefahr diktiert ein Bewußtsein der Einheit, da muß das parteipolitische Interesse zurücktreten.“

Schon am Rande Rashediyehs wird freilich anders gedacht: zwei junge Männer, die nach der Aufhebung der Blockade nach Sour fahren wollen, wurden an einem der sogenannten „fliegenden“ Checkpoints der Amal-Miliz festgehalten. Die Jagd nach „Arafatisten“ ist keineswegs beendet.

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