B.E.Brecht: 90 und ein bißchen müde

■ Zum 90.Geburtstag des gesamtdeutschen Klassikers Feiern in Ost und West / Doch die Euphorie ist vorbei

Die ersten Aufführungen in der Adenauer-Republik waren ein Skandal (“Klassenkampf auf der Bühne“), mit der Studentenbewegung wurde er in der Bundesrepublik zum Klassiker. Heute wird Brecht an den Universitäten „gemacht“ wie Goethe oder Thomas Mann. Auf den Bühnen in Ost und West ist er nach wie vor einer der meistgespielten Autoren, doch macht sich eine Brecht-Müdigkeit bemerkbar. Den Geburtstagsfeiern in der kommenden Woche tut das jedoch keinen Abbruch.

„Brecht kennengelernt. Auffallender Dekadentenkopf, fast schon Verbrecherphysiognomie, sehr dunkel, eigenartig lauernder Gesichtsausdruck, fast der typische Ganove“, notierte Harry Graf Kessler 1928. Im selben Jahr hatten die Gangstergesänge der Dreigroschenoper den dreißigjährigen Brecht berühmt gemacht. Die Zeit des Epischen Theaters begann. „Es war ein großes Aufräumen“, schwärmt Marianne Kesting in ihrer Brecht-Monographie. „Im dialektischen Spiel zwischen Parabel, Utopie und Realität sollte die Möglichkeit einer Veränderung der Welt aufgezeigt werden.“

So sieht ihn seine Gemeinde gern: Brecht, der endlich Schluß machte mit dem „klassischen“ Theater, der bürgerlichen Moralanstalt. Der den Zuschauer nicht mehr an der Nase herumführte und ihn glauben ließ, im Helden des Stückes stecke ein Teil seiner selbst, sondern der ihn entspannt der Handlung folgen, eigene Schlüsse daraus ziehen und dann eine freie Entscheidung fällen lassen wollte. Auch Sartre hatte mit dieser Idee Erfolg. Zwei Dinge jedoch hatte Brecht Sartre voraus: Ihm fielen eine Menge grotesker Späße ein, über die selbst die vernünftigsten Zuschauer lachen können. Über die Berliner Uraufführung der Dreigroschenoper schrieb Klaus Mann: „Tout Berlin trällerte die schönen Balladen von der „Seeräuber Jenny“ und von Mackie Messer, dem man nichts beweisen kann.“

Anfang der Siebziger Jahre sangen ganze Seminare geschlossen das Lob des Revolutionärs. Brecht hatte nach der Niederschrift der Dreigroschenoper Das Kapital gelesen, den Klassenkampf propagiert und von den vielen Stationen seines Exils eindeutig Stellung gegen den Nationalsozialismus bezogen. Brecht war die ideale Leitfigur.

Heute können die StudentInnen kaum noch Brechts Lieder singen. Der Professor muß sie ihnen vortragen. Nach sekundenlangem erstaunten Schweigen wird er respektvolles Klopfen ernten. Natürlich gibt es immer noch StudentInnen, die sich für Brecht begeistern können, die meisten aber beschäftigen sich mit ihm, weil „man Brecht mal gelesen haben muß“. Er ist „Klassiker“ geworden.

„Er ist jedenfalls ein Kopf, fährt Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch fort. Gerade diese Kopflastigkeit bereitet heute Schwierigkeiten. Wer schlägt sich schon mit der Fülle von Theoriematerial herum, das zwischen den langweiligen Pappeinbänden der edition Suhrkamp steckt? Aber „der Zugang zu seinem Werk eröffnet sich allein über den Einblick in Theorie, Problematik und Struktur des von ihm begründeten und gestalteten Epischen Theaters“, bemerkt Helmut Jendreiek mit germanistischer Strenge. Die Studenten sehen sich die Verfilmung seines Stückes „Mutter Courage und ihre Kinder“ an (Regie: B.B). Schon verstehen die Theorieunkundigen das Drama genauso, wie es Brecht nicht wollte. Gespannt folgen sie dem Film und begeistern sich für die Marketenderin, weil sie ihre Geschäftemacherei mit dem Krieg nicht aufgibt und ein Kind nach dem anderen dabei verliert. Dabei sollten die Zuschauer doch gerade sehen, daß „die kleinen Leute mit dem Krieg keine Geschäfte machen konnten“. Schon bei der Uraufführung 1941 in Zürich wurde das Stück auf die gleiche Weise mißverstanden. Heute ist die Sehnsucht nach Gestaltung der Seele größer als der Wille, politisch Gedachtes zu durchdringen. Brecht befremdet seine jungen Leser nicht zuletzt, weil sich so wenig seiner Biographie im Werk wiederfindet. Brecht schrieb weder einen Augsburger Familienroman, den findige Forscher entschlüsseln könnten, noch litt er unter einem Vater-Sohn-Komplex, der einen seiner Helden in den Selbstmord trieb. Weil hier so wenig zu ergründen ist, beginnt Brechts Verhältnis zu schnellen Autos und dicken Zigarren Gegenstand der Untersuchung zu werden.

Der Klassiker hat noch zwei weitere Eigenschaften: er ist erstens tot, und zweitens wird eine der nachfolgenden Generationen sich gegen ihn auflehnen. Brechts letzter Wille soll es gewesen sein, daß man nach seinem Tod sein Herz mit einem Metallstab durchbohre, damit er auf keinen Fall scheintot begraben werde. Professor Beyer erfüllte ihm diesen Wunsch 1956, und auch seinem allerletzten Wunsch wurde stattgegeben: Brecht wurde in einem Zinksarg beigesetzt, indem seine sterblichen Überreste nicht den Würmern zum Opfer fallen konnten. Damit hat Brecht die erste Voraussetzung schon übererfüllt. Und an den Universitäten meldet sich erste Kritik am Meister: „Brecht hat uns nichts mehr zu sagen. Da heute technisch, inhaltlich und stilistisch alles im Theater zu sehen ist, hat Brecht seinen Aufrüttelungscharakter verloren“, meinte ein Germanistikstudent. Und seine Kommilitonin: „Brechts Ideen und Theorien sind rührend, sie bewirken aber gar nichts.“ Claudia Wahjudi