piwik no script img

Deutsch-deutsches Leiden an einander

■ „Herr, erbarme Dich unser“

Sie wisse wohl, hebt Eva Quistorp an, daß viele hier mit dem Beten nicht so viel anfangen können. Doch das hilft der Gemeinde gar nichts: Im Namen der Solidarität mit den Brüdern und Schwestern in Ost-Berlin, die zur gleichen Zeit die gleichen Worte sprechen, im Namen der Christinnen und Christen in Nicaragua und Chile und natürlich für die tapferen Mitstreiter von der Solidarnosc muß jetzt das Vaterunser angestimmt werden, eigentlich ein Mutterunser, wie die Predigerin erklärt, Herr, wo ist Dein Stachel nun. Schwester Eva betet vor, der heilige Geist im Trenchcoat schneidet von der Empore mit. „Dein Wille geschehe, im Himmel wie auf Erden“, murmelt die Gemeinde gehorsam, nichts kann uns mehr erschüttern.

Den Song „Herr, Deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ haben wir bereits hinter uns gebracht, langhaarige östliche Friedensfrauen mit weiten Pullovern und leidendem Blick haben unter tragischen Gitarrenlauten ihre Klage über die Heimatlosigkeit über das Publikum gebreitet, Stephan Krawczyk, in mönchischem Gewand und Habitus sein Lied für Freya – immer ein Achtelton drunter, irgendwo muß es ja mal schräg werden.

Nun wollen wir jeder eine Kerze anzünden und das aussprechen, was uns gerade bewegt, sagt der Pfarrer, und dann stehen die frommen Tröster mit einer Kerze in der Hand am Mikrophon, ich zünde diese Kerze für alle die an, die noch nicht im Knast sitzen, damit sie weiter Kraft haben, die Orgel dröhnt von hinten einen sonoren Tusch: „Herr, erbarme Dich unser“, ich würde gerne eine Kerze anzünden, aber ich kann nicht, weil mir die Hände so zittern, aber wenn ich könnte, würde ich sie anzünden für... Tusch, Herr erbarme dich unser, siehst du, die große dicke Kerze fällt gleich um, grinst mein Banknachbar schadenfroh, „ich zünde eine Kerze an für alle, die nicht wissen, ob sie hier zu Hause sind oder drüben“, Rührung ergreift die Gemeinde, Herr, erbarme Dich unser. Es gibt ein deutsch-deutsches Leiden. An einander. Antje Bauer

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen