: Kompromiß in Würden, samt DDR-Paß
Mit Vera Wollenberger wurde die letzte der „Luxemburg“-Häftlinge freigelassen / Die Mitbegründerin kam mit DDR-Paß samt Familie im Westen an / Theologiestudium in England / Lob für Anwalt Schnur ■ Aus Berlin Stefan Schönert
Auch Vera Wollenberger ist frei. Mit der 35jährigen Mitbegründerin der DDR-“Kirche von unten“ wurde am Dienstag morgen die letzte der insgesamt 22 Gefangenen, die am 17.1. in Ostberlin anläßlich der Rosa Luxemburg Demonstration festgenommen worden waren, von der DDR-Führung aus der Haft entlassen. Die Regimekritikerin ist trotz ihrer Ankunft in der BRD bei Bielefeld noch Bürgerin der DDR.
Vera Wollenberger verließ die DDR mit ihrem dänischen Mann Knut und ihren drei bzw. fünf Jahre alten Kindern Jakob und Jonas. Ihr 16jähriger Sohn Phillip will auf eigenem Wunsch in Ost-Berlin bleiben, um dort die Schule besuchen zu können. Vera Wollenberger ist die fünfte Dissidentin, die sich jetzt in der BRD aufhält und nach offizieller Lesart die Möglichkeit besitzt, später in die DDR zurückzukehren. Zwei weitere ehemalige Gefangene dürfen sich nach Aussetzung ihrer ehemaligen Haftstrafen weiterhin in Ost-Berlin aufhalten. Alle anderen, unter ihnen Stephan Krawczyk und Freya Klier, wurden in die BRD abgeschoben.
Vera Wollenberger begründete ihre Ausreise mit ihrer „besonderen Verantwortung als Mutter“ und sprach von einem ihre „Würde nicht verletzenden Kompromiß“ mit der DDR-Führung, weil sie Staatsbürgerin der DDR bleibe und nach einem Jahr in ihre Heimat zurückreisen könne. Kurz vor ihrer Ausreise erhielt sie einen DDR-Reisepaß. Vera Wollenberger möchte jetzt einer Einladung des Erzbischofs von Canterbury folgen und in England ihr Theologiestudium fortsetzen. Auf einer Pressekonferenz in Bielefeld-Bethel dankte sie allen, die ihr „mit Einsatz und Engagement“ geholfen hätten, und hob besonders die Rolle ihres Rechtsanwaltes Wolfgang Schnur hervor. In der schwersten Zeit ihres Lebens habe er sich nicht nur als hervorragender Verteidiger, sondern auch als Freund erwiesen.
Scharfe Kritik am Verhalten des populären DDR-Rechtsanwaltes übte dagegen der ausgebürgerte Liedermacher Stephan Krawczyk in einem Gespräch mit der taz. Im Hinblick auf seine Situation im Gefängnis erklärte Krawczyk unter anderem, Wolfgang Schnur habe ihn im unklaren über die Stärke der Solidaritätsbewegung gelassen und deren Aktionen verschwiegen. Das habe dazu beigetragen, daß er den Ausreiseantrag unterschrieben habe. Wörtlich erklärte er: „Der Rechtsanwalt und die Stasi-Beamten taten ein übriges, um Schuldgefühle in mir zu wecken.“
Die evangelische Kirche Ost-Berlins hat gestern ihre Aktion, mit der sie ausreisewilligen DDR- Bürgern „Beratungsgespräche und Seelsorge“ bieten wollte, wieder gestoppt. Am Montag dieser Woche, dem ersten Tag der seelsorgerischen Offensive, wurde das Haus der kirchlichen Behörde im Stadtbezirk Lichtenberg von mehreren hundert Personen belagert. Weil auch die Telefonleitungen überlastet waren, erklärte der Ost-Berliner Generalsuperintendent der Kirche am Montag abend, daß das „Angebot in größerem Umfang als erwartet“ in Anspruch genommen würde. Eine sinnvolle Beratung sei deshalb nicht mehr möglich.
Im übrigen erinnerte Krusche an eine Verlautbarung der DDR- Protestanten aus den 5Oer Jahren: Die Christen sollten ihre Chancen und Möglichkeiten in der DDR sehen und sich den bestehenden Aufgaben nicht entziehen. Diese Erklärung wird von der Bevölkerung der DDR offensichtlich nicht ganz ernst genommen.
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