Linie 1 entgleist in Harlem

Zur Eröffnung der Berlinale, Freitagabend siebeneinhalb Uhr, hatten sich ungebetene Gäste angekündigt: Diverse Kreuzberger Kräfte wollten die Ästhetisierung ihrer Lebensverhältnisse in Reinhard Hauffs Verfilmung des Grips-Theaterstücks Linie 1 mit etwas handfesteren Realitäten parieren und das geschnatzte Weltpremmjehrenpublikum spaßeshalber anmischen. Der Aufwand aber tut nicht nötig: Diesem Film entweicht man mit Grausen im Schädel und Hohngelächter im Herzen.

Die Geschichte geht so: Sunnie aus der Provinz steht eines Morgens allein und verlassen am Bahnhof Zoo. Geschüttelt von der Wucht der Metropole weiß sie nur noch dieses eine: Zu Johnnie will sie, dem Rockstar, mit dem sie in der Heimat etwas hatte, als der dort gastierte. Nun hat sie die Große Liebe im Herzen und vielleicht etwas Kleines im Bauch. Doch der Rockstar hat gelogen: Seine Adresse gibt es gar nicht, er ist eitel, gemein und dumm – das aber erst am Schluß. Vorerst will Sunnie nach Kreuzberg. Groß ist die Stadt, und klein ist das Hirn, die Tränen kullern reichlich, Sunnie reckt das Näschen, die Äuglein schimmern: Es faltet die kleinen Zehlein, das Rehlein.

Nun ist zwar niemand aus Altenhagen oder Hüllhorst oder sonstwo auf dem platten Lande so dösig, wie Sunnie sich stellen muß, aber wenn schon verkehrte Welt, dann richtig: Am Schlesischen Tor trifft sie auf Bambi, harte Schale, weicher Keks, naßforsch, er kennt jeden, von der Frittenbudentante bis zur Lady mit dem großen Geld.

Und immer fährt die U-Bahn her und hin und transportiert die schwache Story und die Leute, die sie füllen sollen: Spießer, Spanner, BZ-Leser, Schwule, Neger, Spinner, Punx und Penner, das ganz normal verrückte Publikum, und immerzu wird fleißig, wenn auch keineswegs gekonnt, gesungen. Herumhampeln muß die Bagage auch, die Kreuzberger Fraktion irgendwie harlemmäßig. Irgendwann wirft sich irgendwer auf die Schienen und ist rot und tot, Skinheads kommen zum Kurzeinsatz ihrer Baseballschläger, die Polizei ist auch dabei, alle weinen sehr und sind am Ende doch wieder glücklich: mutig und hoffnungsvoll straucheln sie in eine leuchtende Zukunft.

Nach der netten Geschichte mit diesen Terrortypen (“Stammheim“) hat sich Reinhard Hauff nun des Berliner Elends angenommen. War Linie 1 auf der Bühne immerhin noch tolerabel, so ist die Verfilmung nur ein künstlicher Abklatsch, überzeugend wie ein Haarlack- Werbespot. Alles wabert, dumpfe Billigmusik ertönt, und zum Davonrennen untalentierte Schauspieler bilden junge Menschen ab.

Einen kurzen Moment der Erlösung gibt es, als Hark Bohm in einer Gastrolle erscheint: endlich ein Gesicht, endlich ein Schauspieler: ruhig sitzt er da, und das ganze möchtegern-grelle Getue, die Sozialkitschtünche bröckelt ab.

Es ist wie im Traum, trällerts, Schlimmer! stöhnt Kollege Ehrlich im Nebensitz, aber das Publikum, hauptsächlich Beteiligte, schmilzt dahin vor Glück und Soße. Es muß schön sein, den eigenen Namen in Vor- und Abspann lesen zu können; Schauspieler, so scheint es, sind die dümmsten Menschen der Welt. wiglaf droste