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Stimmung. Ernsthaft.

■ In deutschen Landen überschreitet dieser Tage die Lustigkeit wieder die Humorgrenze *B

Fastnacht, Karneval oder Fasching, egal, Hauptsache, man(n) kann mal wieder richtig die Sau rauslassen. Wo man doch das ganze Jahr über ein tristes Dasein führen muß. An den „närrischen“ Tagen wird den krampfhaft nach sogenannter Lebensfreude Suchenden die Fröhlichkeit gut durchorganisiert oder per Alkoholerlaß dargeboten. Die Lustigkeits-Konsumenten setzen sich Pappnase und Spitzhut auf, schunkeln und lachen auf Befehl und ertrinken letztendlich im Katzenjammer. Helau.

„Jetzt goht dFasnet a mit de rote Pfiife.“ Es ist fünf oder sechs Uhr morgens, mit ohrenbetäubender Katzenmusik, mit Kochlöffelgetrommel, mit Gerassel und Schellengeläut beenden Hexen und Teufel, bleiche Narronen und Federnhannesla, der Schuddig oder das Mundle, das Blätzle und die Rugunkel letzte Widerstände, sich mit dem Tag zu befreunden. Schmotziger Durschtig (Donnertag), woanders Weiberfasnacht, der wiederentdeckte alemannische Traditionskult hat begonnen. Wenig später stinkts aus allen Häusern nach dem Schweineschmalz der Krapfenbäcker. Am nächsten Tag meldet dpa die brutale Vergewaltigung eines kleinen Mädchens und eine Massenschlägerei von 150 Narren und 30 Polizisten – jeder gegen jeden. Es naht der Höhepunkt schwäbischer Fröhlichkeit zur Fasnachtszeit.

Schon einen Tag später ist es wieder ruhig, rheinische Narretei plärrt aus der Music-Box, die ersten Wunden sind geleckt, es riecht nach Freitagseintopf und aus den Toiletten frisch nach Desinfektionsmittel – man rüstet zum Finale. Aufregend närrisch ist auch der Samstag nicht, die Kolpingfamilie lädt zum Faschingsball, Prunksitzung hält die Gesell schaft Möbelwagen, zum Kappenabend im Vereinsheim treffen sich die Naturfreunde Stuttgart- Nord.

Samstag 20 Uhr. Ob wohl die Party einer Stuttgarter Stadtzeitung doch mehr hergibt als die Kolpingfeier? Ein paar Hundert Pärchen warten an der Kasse des Stuttgarter Theaterhauses. Etwas vereinzelt wirkt die goldgeschminkte Katze, einem hageren Teufel mit rotgefärbter Glatze bleibt der vielen Schminke wegen näherer Kontakt versagt. Bier und Hausmarke gibts in Plastikbechern, die Lüftung des Hauses ist auf soviel warme Menschlichkeit nicht eingerichtet.

22 Uhr. Zu heißen Rhythmen transpiriert der Saal, aber wo bunte Papierschlangen, Kappen und rote Nasen fehlen, ist auch nicht Fasnacht. Bekannte geben erste, sichere Tips, im Wangener Feuerwehrhaus sei an solchen Tagen immer Rambo Zambo. Der Grüne Baum in Cannstatt, meint ein anderer, dort sei, auch wenn sonst absolut tote Hose ist, die Sau los. Es geht auf Mitternacht, ich fahre. Das Feuerwehrhaus ist geschlossen, und selbst die Polizeiwache gegenüber scheint verwaist. Aus einer Bierschwemme am Bahnhof torkelt ein Betrunke ner. Als er seine Umgebung wahrnimmt, will er wieder zurück, aber die Tür ist jetzt verschlossen. Stuttgart Bad-Cannstatt nach Mitternacht. Der Kaufhof hat seine Schaufenster mit Karnevalskostümen noch immer hell erleuchtet. In einiger Entfernung entdecke ich einen Menschen mit spitzer Faschingskappe, doch ehe ich ihn nach Ziel oder Herkunft befragen kann, ist er verschwunden.

Dann endlich, Ecke Sulzbach- und Spreuergasse, gleich hinter dem Jakobsbrunnen und Thomas Hair Studio wird es turbulent. „Schöne Frau, schöne Frau, deine Augen sind so blau“ klagt die Hammond-Orgel aus dem Gasthof Rappen: Am 13.2. em Rappa, do isch des Fescht mit de Kappa, verspricht ein Schild.

Die Stimmung ist auf dem Siedepunkt, die Fenster beschlagen. Einem alten Schwaben sind die Gesichtszüge entglitten, ganz konzenrtriert darauf, einer jüngeren Blondine mit Katzenmaske und Hawaii-T-Shirt immer dann, wenn sie ihm den Rücken zudreht, schnell die welke Hand zwischen die Oberschenkel zu schieben. Balla balla dröhnt da die Hammondorgel. Hektisch reckt eine ältere Frau im selbstgemachten Clownskostüm den Hals, fast hätte sie vor Aufregung ihren Apfelsaft umgestoßen. Da hat mich auch schon eine Jeansfrau im Westernkostüm fixiert, steif zuckt ihr Tanzpartner, ihr Gesicht kommt mir entgegen. Ich weiß selbst, daß es weit nach Mitternacht ist, ich drücke mich zwischen die Mäntel der Garderobe – Balla Balla, zwischen Garderobe und Hammondorgel ist ein freier Stuhl – ein letz tes Balla Balla, Pause, geschafft, Bier für Orgel und Gitarre.

Jetzt habe ich nur das Potpourri von Orgel und Gitarre im Rücken und den Rappen vor mir. Ein großes Bier schwappt neben mir auf den Tisch, naß spricht mich einer an, sein Blumenhemd ist durchgeschwitzt. Er ist knapp vierzig, sein Leben lang habe er gearbeitet, jetzt stünde er auf der Straße – seine Frau! Was ist damit? Die Hammondorgel hat wieder eingesetzt – „Kennst du die Berge“, die Wirtin mit riesigen Lederhosen tanzt mit der Kellnerin. Zwei Rentnerinnen tanzen und singen mit. „Aus Südtirol...“, alles schunkelt, eine Vierzigerin mir gegenüber im schwarzen Seidenoverall singt ihr Bierglas an, der geile Alte hat sich jodelnd wieder eingereiht. Die Männer haben rote Köpfe und johlen, denn: „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“, ja, da heißt es mitmachen, dabeisein, Mann sein und glücklich – das Leben, ein Kalauer.

„Jawohl mein Schatz, es ist vorbei“, mein Nachbar will immer noch mit mir reden, ich verstehe ihn kaum, ... die Frauen, ich weiß! Keine Wohnung, vier Selbstmordversuche habe er schon gemacht! Hohoho ... auch die Zweimannkapelle beginnt schlüpfrig zu werden ... ein Polenmädel, und ein Frohsinn der Gemütlichkeit. Nicht nur immer die Frauen, auch er habe eine Geschichte zu erzählen, zupft mich mein Nachbar. Ein Junger in Bomberjacke kippt vom Stuhl und schunkelt zwischen den Füßen der Tanzenden weiter. Tut mit leid, Nachbar, wegen der Selbstmordversuche – ich versuche mich noch zu wehren, aber die durchgeschwitzte Dicke ist hartnäckig und schleppt mich auf die Dielen. Der geile Alte zupft an seiner Hose ... „Weine nicht wenn der Regen fällt, es gibt einen, der zu dir hält ... damm, damm. Zwei junge Turnschuhtypen sind schon am deliren, in der Nische vor der Toilette ist es eng und intim geworden, ein paar sind an den Stehbiertischen eingeschlafen. „Rote Lippen soll man küssen ...“, einer versuchts bei der Netzstrumpfdame neben mir – vergeblich.

Meine Schorle ist leer, der Selbstmordkandidat erholt sich beim Rockn Roll, die Gelegenheit ist günstig und die Tür nicht weit. Draußen ist es kalt, es riecht nach altem Bier, nach Gulli und Neubau, Polizisten gibt es keine heute Nacht – Fastnacht im Schwabenland hat ja auch noch gar nicht richtig angefangen. Dietrich Willier

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