Kalender–Variationen

■ Der Tarifabschluß in der Stahlindustrie

Die Einigung in der Tarifauseinandersetzung der Stahlindustrie überrascht nicht, aber sie verblüfft. Nachdem die Arbeitgeber schon vor 14 Tagen die IG Metall mit einem Angebot über eineinhalb Stunden Arbeitszeitverkürzung in Verlegenheit gebracht hatten, konnte es eigentlich nur noch um Modifikationen dieses Angebots gehen. Und eben diese Modifikationen sind das eigentlich Verwunderliche. Die Veränderungen, die die Gewerkschaft in der letzten Verhandlungsrunde noch durchgesetzt hat, sind geringfügig, aber für den Zustand der Ruhrgebiets–IG–Metall bezeichnend. Denn den betrieblichen Vertretern in der Verhandlungskommission der Gewerkschaft lag trotz Stahlkrise und Massenarbeitslosigkeit vor allem die Lohnfrage am Herzen, und nicht die Arbeitszeitverkürzung. So wurde das Inkrafttreten der Arbeitszeitverkürzung gegenüber dem ursprünglichen Arbeitgeberangebot um einen Monat hinausgeschoben, während die stufenweise Lohnerhöhung zeitlich ein bißchen vorgezogen wurde. Immerhin: Mit 36,5 Stunden sind die Stahlarbeiter jetzt Spitzenreiter in Sachen Arbeitszeitverkürzung. Dies ist angesichts der Stahlkrise und der allgemeinen Arbeitsmarktlage im Revier auch mehr als gerechtfertigt. Aber dennoch drängt sich der Verdacht auf, daß die Stahlgewerkschafter noch immer nicht die sozialpolitische Dimension einer auf Arbeitsumverteilung angelegten Tarifstrategie begriffen haben. Es gibt eben im Revier nicht nur antiquierte Industriestrukturen, sondern auch zurückgebliebenes Bewußtsein. Nur so ist zu erklären, daß die Gewerkschafter am Schluß nicht noch ein bißchen mehr Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt haben, sondern ein paar Mark mehr Lohn. Martin Kempe