Ein Grundsatzstreit quer durch alle Parteien

■ Die Auseinandersetzung um den Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung entzweit nicht nur die SPD / Unterschiede zwischen Öffentlichem Dienst und gewerblicher Wirtschaft / Im Hintergrund schwebt ein Konflikt um den Arbeitsbegriff

Von Martin Kempe

Berlin (taz) - In der SPD gehen die Kontrahenten heftig aufeinander los. Bei den Grünen streiten sich die Flügel. In der CDU schaltete sich Chefmanager Geißler in die Diskussion ein und erntete beim Arbeitnehmerflügel der Union verhaltenes Schweigen. Bei der Debatte um Arbeitszeitverkürzung und Lohnausgleich im Öffentlichen Dienst gehen die Fronten quer durch sämtliche Parteien, und es stellen sich verblüffende inhaltliche Koalitionen her: so wird der Vorstoß des saarländischen Ministerpräsidenten Lafontaine, bei höheren Gehaltsstufen Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich vorzunehmen und stattdessen mehr Arbeitslose einzustellen, nicht nur von den betroffenen Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes und rechtssozialdemokratischen Gewerkschaftern wie Hermann Rappe (IG Chemie) heftig attakiert, sondern auch von den ökosozialistischen Grünen. Die Kritik reicht von grundsätzlicher Ablehnung bis hin zu dem taktischen Einwand, die Vorschläge Lafontaines seien gerade jetzt während der laufenden Tarifauseinandersetzung im Öffentlichen Dienst unpassend (Regula Bott von den Grünen, Björn Engholm von der SPD–Schleswig– Holstein). Das Problem ist nciht neu, schon bei früheren Tarifauseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst wurde vorgeschlagen, nicht alle Einkommensstufen gleichermaßen an der Lohnsteigerung zu beteiligen. Denn jedes Prozent, das die Busfahrer für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes erkämpft hatten, kam den üppig verdienenden Spitzenbeamten doppelt und dreifach gleichermaßen zugute. Dennoch hat die ÖTV, deren Mitglieder überwiegend den unteren und mittleren Einkommensgruppen angehören, immer abgelehnt, eine tarifpolitische Entkoppelung zwischen Unten und Oben hinzunehmen. Wenn die öffentlichen Arbeitgeber derartiges ins Spiel brächten, so ist die derzeitige Lesart, könne darüber geredet werden. Aber von sich aus wollte die Gewerkschaft das Thema, das ihr nun durch die öffentliche Debatte aufgezwungen wird, nicht aufgreifen. Eine Koppelung von Lohnhöhe und Arbeitszeitverkürzung nimmt die Gewerkschaft - unterschiedslos für alle Beschäftigtengruppen - lediglich in Bezug auf die Höhe der prozentualen Lohnsteigerung in Kauf: je mehr Arbeitszeitverkürzung sie durchsetzt, desto weniger bleibt im Gesamtrahmen ihres Forderungspakets von fünf Prozent Lohnkostensteigerung für eine effektive Lohnerhöhung übrig. Dabei ließe sich eine unterschiedliche Behandlung zwischen hohen und niedrigen Einkommensgruppen durchaus mit der gewerkschaftlichen Programmatik vereinbaren. In anderen Branchen, beispielsweise im Metallbereich, geht die Tarifleiter ungefähr bis 4.500 Mark. Jene Beschäftigten, in der Regel höhere Angestellte mit Vorgesetztenfunktionen, deren Einkommen den tariflichen Spitzenlohn übersteigen, gelten als außertarifliche Beschäftigte. Dies gibt den Unternehmen die Möglichkeit, tarifliche Veränderungen beim Lohn oder bei der Arbeitszeit auf diese Beschäftigtengruppe anzuwenden oder auch nicht. Detlef Hensche von der IG Druck und Papier hat aufgrund dieser Erfahrungen eingewandt, ein derartiger Lohnverzicht falle allein den Unternehmern zu, die mit dem auf diese Weise eingesparten Geld wiederum Rationalisierungsinvestitionen finanzieren könnten. Dies stimmt nur dann, wenn der Lohnverzicht in den oberen Einkommensgruppen dem Unternehmer bzw. den öffentlichen Arbeitgebern zur freien Verwendung überlassen blieben. Gerade dies aber will zum Beispiel der sozialpolitische Sprecher der Grünen, Willi Hoss, verhindern: Er fordert, tarifvertraglich abzusichern, daß der Lohnverzicht der privilegierten Beschäftigtengruppen für Neueinstellungen verwendet wird. In ähnliche Richtung geht auch das Beispiel Lafontaines: wenn alle Lehrer im Saarland auf zwei Unterrichtsstunden verzichten würden, meinte er, dann könnte mit dem derart eingesparten Geld die Lehrerarbeitslosig keit im Saarland beseitigt werden. In allen Parteien gibt es inzwischen Diskussionsanstöße, den althergebrachten Arbeitsbegriff um solche Tätigkeiten zu erweitern, die sozial notwendig sind, ohne gleichzeitig Erwerbsarbeit zu sein. Die Grünen haben einen Entwurf für ein neues Arbeitszeitgesetz vorgelegt, der solchen Tätigkeiten - von der Kindererziehung bis zum Engangement in Bürgerinitiativen - sozial abgesicherte Freiräume jenseits des Erwerbslebens verschafft. Lafontaine hat diese Positionen inzwischen weitgehend übernommen. Auch in der CDU gibt es Denkanstöße dieser Art. Auf der anderen Seite versuchen die Gewerkschaften aus einem kurzsichtigen organisationspolitischen Interesse, die zentrale Bedeutung der Erwerbsarbeit zu verteidigen.