: SDI: Von der Langlebigkeit eines Mythos
■ Vor fünf Jahren eröffnete Reagan der Welt seinen Traum von einem Schutzschild im All / Obwohl sich herausgestellt hat, daß SDI technisch nicht durchführbar, strategisch veraltet und wirtschaftlich riskant ist, hält auch der US–Kongreß an dem Mythos fest, durch SDI die „amerikanische Unschuld“ bewahren zu können
Von Josef Ernst
„Lassen sie mich eine Vorstellung von der Zukunft mit Ihnen teilen, die Anlaß zur Hoffnung gibt“, leitete Präsident Reagan am 23.März 1983 die offizielle Verkündigung seiner Vision vom „Krieg der Sterne“ ein. „Ich wende mich an die Wissenschaftler unseres Landes, die uns Atomwaffen gegeben haben. Ihre hervorragenden Fähigkeiten nun in den Dienst der Menschheit und des Weltfriedens zu stellen: uns die Mittel zu verschaffen, Atomwaffen nutzlos und überflüssig zu machen.“ So wurde mit wenigen Worten der Welt aufwendigstes und anspruchsvollstes Forschungsprogramm gezündet. Ein unsichtbarer Schirm sollte über den USA aufgespannt werden, um bis zu 2.3000 angreifende sowjetische Langstreckenraketen gleichsam aus der Luft zu picken. Time– Kolumnist Hugh Sidey erkannte die märchenhafte Dimension des Projektes sofort: „Ein geschickter und entschlossener Präsident, der in der Lage ist, die Vorstellungskraft der Nation einzufangen, kann Wunder vollbringen.“ Kurzschluß SDI Seit dem Sputnikschock von 1959, als die UdSSR den USA das technologische Patt im Wettrüsten demonstrierte, plagt Amerika seine ständig komplizierter werdende militärische Rolle als Schirmherr im westlichen Bündnis. Seitdem haben die Entwicklungen immer differenzierterer und potenterer Waffenarsenale diese Position zum Risiko verkehrt. Heute garantiert die NATO–Mitgliedschaft den USA nicht mehr, einen Krieg auf Europa begrenzen zu können. Auch die Hilfskonstruktion der „abgestuften Vergeltung“, wie sie seit 1966 NATO– Doktrin ist, kann von der Gefährdung des eigenen Landes nicht ablenken. 1979 war das „Reich des Bösen“ (Reagan) außerdem in Afghanistan eingefallen und vermittelte den kalten Kriegern im Weißen Haus das Stigma geopolitischer Impotenz. Zweitens bewegte sich das amerikanische Haushaltsdefizit immer weiter in die roten Zahlen. 1983 betrug es schon über 200 Milliarden Dollar und hat sich seitdem unwesentlich verändert. Hinzu kam ein rasch ansteigendes Handelsdefizit von ca. 30 Milliarden Dollar 1980 auf über 100 Milliarden Dollar 1984 (heute: 171 Milliarden) und der Vorwurf, die europäischen und japanischen Handelspartner schotteten ihre Märkte durch Schutzzölle gegen amerikanische Güter ab. Schließlich hatte 1980 die Geiselnahme im Iran amerikanische Ohnmacht gegenüber einem Land der „dritten Welt“ aufs Schmerzlichste demonstriert. Die amerikanische Souveränität schien verloren, als die Krise von den Medien über 444 Tage zu einem innenpolitischen Dilemma verarbeitet wurde. Unter dem Strich wurde der Eindruck vermittelt, als bedrohte die Sowjetunion „unsere“ Sicherheit, als beschnitten die Europäer „unsere“ Eigenständigkeit und als gefährdeten Terroristen „unsere“ Freiheit. Kurz: „Unser“ Lebensstil ist unter Beschuß. Nach einem korrupten Präsidenten (Richard Nixon) und einem hilflosen (Jimmy Carter) machte die Vision des bodenständigen Reagan einen soliden Eindruck, auch weil SDI Abhilfe für alle Sorgen zugleich versprach: Die sowjetische Rüstung würde keine ernste Gefahr mehr darstellen, die angeknackste Wirtschaft würde einen anständigen Schub bekom men und auch die Europäer wären versorgt, denn ein „starkes“ Amerika, das sich selbst hinter einer SDI–Wagenburg verteidigen kann, ist besser als ein abhängiges, auf Kooperation angewiesenes Amerika. Technischer Zweckoptimismus Aufgrund vielfältiger technischer Probleme und der Kosten, die ihre Lösung verursachen würde, ist die Vorstellung von einem die USA überspannenden Schutzschirm gegen Atomraketen schon 1985 aufgegeben worden. Seitdem arbeiten Wissenschaftler und Techniker im Rahmen der von Botschafter und Präsidentenberater Paul Nitze formulierten „Kosten– Nutzen Rechnung“ an einem „kleinen“ SDI, das nur einen teilweisen Schutz bieten soll. Doch ob groß oder klein, es bleibt die Absicht, Atomraketen während der „Boost–Phase“, also innerhalb der ersten Minuten nach dem Start, zu zerstören. Dies wird als die technisch gesehen einfachste Lösung betrachtet, weil die Raketenspitzen sich nach dem Austritt aus der Erdatmosphäre auflösen und eine große Menge von Sprengköpfen und Ködern zur Ablenkung von Abwehrwaffen freisetzen. Je näher die Sprengköpfe ihrem Ziel kommen, je schneller und differenzierter müßte die Gegenreaktion sein. Die einfachste Lösung birgt gleichzeitig die höchste Gefahren. Die dabei unvermeidliche Explosion einer Anzahl von Atomsprengköpfen innerhalb der Erdatmosphäre hätte, wie der vergleichsweise unbedeutende GAU von Tschernobyl ahnen läßt, verheerende Folgen. Strategie–Bankrott Anläßlich einer von der Friedrich Naumann Stiftung getragenen Gesprächsrunde in Washington ging der Strategieexperte Loren Thompson von der Georgetown University trotz aller technischen Einwände einmal davon aus, daß SDI mit genügend Zeit und Geld in absehbarer Zukunft funktionieren wird. Was dann? Der Ernstfall. Die UdSSR hat ihre Langstreckenraketen aktiviert. Herkömmliche amerikanische Satelliten nehmen sofort die Hitzewellen der Triebwerke wahr und berechnen die Flugbahnen und den Zeitpunkt und Ort des Einschlags. Gleichzeitig wird der amerikanische Gegenschlag ausgelöst. Ob SDI die sowjetischen Raketen eventuell eliminieren würde oder nicht, ist hierbei zweitrangig. Die Achillesferse des Szenarios bleibt die unvermeidliche Hitzeentwicklung der startenden Raketen, die unweigerlich zur Vergeltung einlädt. Beide Seiten wissen daher, daß Langstreckenraketen wegen ihrer „Sichtbarkeit“ nicht das erste Kriegsmittel sind, sondern das letzte. Der praktische Nutzen solcher Waffen geht über ihren Abschreckungswert nicht hinaus. Thompson fuhr fort, daß SDI sich nicht nur mit den klobigsten Waffen befassen, deren Einsatz so oder so zum endgültigen Desaster führen würde, SDI wäre auch durch Bomber und Cruise Missiles einfach zu umgehen. Seine Überlegungen stellen das Konzept der völligen gegenseitigen Vernichtung (MAD), gegen das SDI gerichtet ist, in Frage. Dies geht ebenfalls aus einer im Januar veröffentlichten Studie hervor, die im Auftrag des Pentagon und des Nationalen Sicherheitsrates erstellt wurde. In „Discriminate Deterrence“ (Ausgewählte Abschreckung) wird vorgeschlagen, in Zukunft statt eines massiven Gegenschlags nur militärische Knotenpunkte durch kontrollierbare Präzisionswaffen zu zerstören. Angriffswaffe SDI Der immanenten amerikanischen Logik widerspricht auch FR–Mitarbeiter Anton–Andreas Guha. In seinem Buch „Schild oder Waffe“ kommt er zu dem Schluß, SDI begünstige einen Erstschlag, „weil die Strategische Verteidigungsinitiative ihn kalkulierbar macht und das Risiko, trotz allem von Vergeltungsschlägen des Gegners getroffen zu werden, auf ein militärisch rationales Maß verringert“. „Rational“ bedeutet in diesem Zusammenhang die Inkaufnahme von vielen Millionen Toten auf der eigenen Seite. Aber deswegen müssen sowjetische Planer trotzdem an Gegenmaßnahmen denken. Die einfachste Gegenmaßnahme der UdSSR würde sein, ihr Atomarsenal drastisch aufzustocken, um einem präventiven Erstschlag vorzubauen. Wollten die USA SDI dann ausbauen, würde damit eine völlig neue Rüstungsspirale in Gang gesetzt, deren Kosten–Nutzen Effekt - teure Satellitenabwehr gegen billige Langstreckenraketen - sich schon frühzeitig deutlich gegen die USA richten würde. Ein anderer Einwand ist, daß es sich bei SDI in Wirklichkeit um ein direktes Erstschlagssystem handle (J. Galtung, taz vom 28.9.1987). Außer den technischen Schwierigkeiten, die ein schwergewichtiges aktives SDI bereiten würde, käme hinzu, daß SDI dann in der Lage sein müßte, mit noch schwereren Geschossen auf versteckte und transportable Raketen der UdSSR schießen zu können. Der Zweck der dafür notwendigen kleinen Planeten wäre schon bei ihrer Installierung offensichtlich und könnte, falls die UdSSR bis dahin nicht über ein eigenes SDI verfügen sollte, z.B. zum Einsatz ihres Galosh Systems führen. Galosh, zur gebietsweisen Abwehr von Langstreckenraketen ausgelegt, ist seit über 15 Jahren in der Nähe von Moskau stationiert und wäre zur Bekämpfung von Satelliten gut geeignet. Wirtschaftliche Belastung Auf die Frage nach einem möglicherweise wirtschaftlich motivierten Interesse an SDI nannte der Wirtschaftsexperte Kenneth Flamm von der Brookings Institution in Washington SDI eine „Saftpresse für jeden, der Kapital sucht“. Doch selbst im Vergleich zum „Manhattan Project“ von 1944, zum Bau der Atombombe, das die Grundlage für die Atomindustrie bildete und als dessen einziges Nebenprodukt Teflon zu vermarkten war, stehen die Chancen für einen späteren kommerziellen Nutzen fast aller von der SDI Forschung anvisierten Projekte schlecht. Dafür werden die zu erwartenden Produkte erstens zu hochspezialisiert sein und zweitens müßten die beteiligten Firmen auf dem zivilen Markt arbeiten. Zudem „verschlimmern die Kosten für SDI die wirtschaftliche Schwäche einiger Bundesstaaten“, schreibt Rosy Nimroody vom New Yorker Council of Econimic Priorities. Das bis jetzt insgesamt 8,2 Milliarden Dollar schwere Programm (das Pentagon will 1989 weitere 4,2 Milliarden) hat bereits dazu geführt, daß 74 Prozent des Geldes an nur 20 Firmen in vorwiegend sieben Bundesstaaten vergeben wurden. Die anderen 43 Bundesstaaten sind mit nur 1,4 Prozent am Programm beteiligt, obwohl ihre Steuerabgaben es zu 80 Prozent finanzieren. Nach einer Studie des Council müßten außerdem zwischen 2001 und 2010 140.000 Wissenschaftler und Techniker für SDI arbeiten. Das wären 5,1 Prozent aller US–Wissenschaftler, 1 Prozent mehr als das Apollo– Programm auf seinem Höhepunkt 1966 in Anspruch nahm. Damals mußte die Privatwirtschaft hohe Preise zahlen, um ein weiters Überwechseln dieser Spezialisten zu verhindern. Die Washington Post berichtete im August 1987, daß der gleiche Trend sich auch 1986 abgezeichnet habe, als SDI bereits 84 Prozent aller neuen Forschungsgelder absorbierte. Schließlich hat die abrupte Konzentration der Forschungsgelder auch zu einem Durcheinander in der Forschung selbst geführt. Besonders im Zusammenspiel zwischen Entwicklern von Hardware (den Computern und Waffensystemen) und der Software (den benötigten Programmen) kommt es vor, das die „software sogar verschlimmbessert wird“, schreibt David Parnas, ein Softwareexperte vom Massachusetts Institute of Technology. Dies ist zum Teil ein Sachproblem, weil Wissenschaftler schwer bestimmen können, was Hard– und Software leisten sollen und wie - wenn überhaupt - ihr Zusammenspiel zu testen wäre. Zum Teil liegt es aber besonders am frenetischen Zeitplan, der dem Projekt zugrunde liegt. Der psychische Verschleiß bei beteiligten Wissenschaftlern ist dementsprechend hoch. Parnas, der bereits 1985 aus dem Programm ausgestiegen ist, kritisiert die strukturelle Perspektivlosigkeit: „Die kurzfristig angewandte Forschung und die konzentrierte Entwicklung, die gegenwärtig im Rahmen des SDI–Programms finanziert werden, sind nicht dazu geeignet, das Problem (einen technologischen Zauber zu finden) zu lösen.“ Technisch unwegbar und wirtschaftlich verfehlt zieht SDI noch weite Kreise. Geopolitische Unstimmigkeiten SDI ist für die NATO eine Belastung. Bisher teilten Westeuropa, die USA und die UdSSR die Ansicht, daß Krieg glaubwürdig nur durch die Existenz von Atomwaffen verhindert werden könnte. Dazu gehört, durch den Gegner verwundbar zu sein, denn sonst bräuchte sich keine Seite an Abmachungen zu halten. Diese Logik steht hinter dem 1972 zwischen den USA und der UdSSR vereinbarten Raketen–Abwehrabkommen (ABM), welches die Reagan–Administration seit 1985 zu unterminieren versucht. Europäische Politiker sind dennoch positiv gegenüber SDI eingestellt. Trotz großer Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen von SDI auf die Rüstungskontrolle gebot Bündnistreue, die US–Verteidigungspolitik nicht zu kritisieren. Die verquere Verhaltensweise europäischer Regierungen ging soweit, den Wählern wirtschaftliche Gewinne aus der SDI–Forschung zu versprechen. Als Symbol hierfür reiste Bundeswirtschaftsminister Bangemann im März 1986 nach Washington, um mit dem damaligen Pentagon– Chef Weinberger einen SDI–Vertrag zu unterschreiben (siehe Kasten). Ohne einen nennenswerten wirtschaftlichen Nutzen blieb unter dem Strich der politische Schaden. Allerdings ermöglichte SDI es der Reagan–Administration, Abrüstungsverhandlungen über Jahre hinaus zu blockieren, was zu Spannungen in der NATO führte. Gorbatschow hingegen erfreute sich steigender Popularität, als er SDI von der Liste der Bedingungen für die doppelte Null–Lösung strich. Vermutlich hatte er die Schwächen des Forschungsprogramms erkannt. Im Detail ist SDI technisch kompliziert, strategisch veraltet, wirtschaftlich riskant und politisch unerwünscht. Der Kongreß ist dementsprechend verunsichert und hat SDI in den vergangenen beiden Jahren nur widerwillig unterstützt. 1986 fanden sich im Senat 50 gegen 49 Stimmen, 1987 war es ein 50:50 Patt, das durch Vize–Präsident Bush für SDI aufgehoben wurde. Anfang dieses Jahres bewilligte der Kongreß ein Drittel weniger für das Programm, als Reagan gefordert hatte. Der Chef des SDI–Büros, Generalleutnant Abrahamson, gab deshalb am 29.Februar bekannt, daß SDI dadurch „um mindestens zwei Jahre“ zurückgeworfen worden sei. Trotzdem: SDI nährt sich aus dem amerikanischen Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Geht es den Befürwortern des Programms doch um nichts geringeres als die Rettung der „amerikanischen Unschuld, eines der zäheren Themen in der Kulturgeschichte dieses Landes“, wie der Historiker Paul Boyer in The Nation schrieb. Neben dem Mythos regiert aber auch der Mammon! SDI ist ein „bösartiger Haushaltselephant“ (Senator W. Proxmire aus Wisconsin) geworden, der es Kongreßmitgliedern erlaubt, die Forschungsgelder für ihre Interessen einzusetzen. Sie werden SDI weiterhin unterstützen, bis sich neue Finanzquellen erschließen, z.B. durch die Anfang Februar angekündigte Reise zum Mars.
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