: Erneute Demonstration in Armenien
■ Nach einem Artikel über die Nationalitätenfrage in der sowjetischen Parteizeitung Prawda demonstrierten wiederum 7.000 Armenier in Eriwan und erneuerten die Forderung nach Anschluß der armenischen Enklave Berg–Karabach an Armenien
Berlin (rtr/afp/taz) - Wer glaubte, die Aktionspause nach den großen Demonstrationen in Armenien Ende Februar hätte die Lage in dem Nationalitätenkonflikt in den kaukasischen Republiken der UdSSR beruhigt, sieht sich nun getäuscht: Über 7.000 Armenier demonstrierten am Montag abend gegen einen Artikel in der Parteizeitung Prawda, der am gleichen Tag veröffentlicht worden war und in der Tendenz eine unnachgiebige Haltung der Parteiführung in der Nationalitätenfrage zu signalisieren scheint. Nach Angaben aus sowjetischen Dissidentenkreisen seien die Menschen nach Feierabend vor das Pressehaus der armenischen Hauptstadt Eriwan gezogen und hätten so deutlich gemacht, daß sie nach wie vor an ihren Forderungen festhielten. Die armenische Bevölkerung will im Einklang mit den regionalen Gremien der Partei eine Entscheidung über die Angliederung der in der benachbarten Republik Aserbeidschan liegenden Enklave Berg–Karabach an die armenische Sowjetrepublik. Gorbatschow steht bei den Armeniern im Wort: Nach den großen Demonstrationen im vergangenen Monat und unter dem Eindruck des Pogroms an Armeniern in der aserbeidschanischen Stadt Sumgait vom 28.Februar hatte der Parteichef eine Prüfung der Forderungen durch eine Parteikonferenz versprochen. Im Gegenzug hatte das armenische Karabach–Komitee zur Ruhe aufgerufen und so der Parteiführung eine vierwöchige Atempause verschafft. Am kommenden Sonnabend soll die Entscheidung fallen. Die Forderung der Bevölkerung, des Gebietssowjets und des Gebietsparteikomitees von Karabach stelle nationalistische Interessen über die des Staates und habe einen „antisozialistischen Geruch“, hieß es in dem Artikel der Prawda. Berg–Karabach sei seit Jahrzehnten durch Tausende Bande mit der Republik Aserbeidschan verbunden. Ein Zerreißen dieser Bande würde sich nicht nur negativ auf die sozioökonomische Entwicklung der Region, sondern auch für das ganze Land auswirken, begründete das Blatt diese Analyse. Indem die Parteizeitung auch noch darauf hinwies, daß die Karabach–Frage immer dann aufgekommen sei, wenn führende Funktionäre von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Region ablenken wollten, gab sie sogar ein Signal für personelle Ver änderungen in der armenischen Parteiführung. Diese Linie wurde in einem Kommentar der amtlichen Nachrichtenagentur TASS fortgesetzt, der am Abend in der Haupt–Nachrichtensendung des Fernsehens verlesen wurde. Einige der Organisatoren der Proteste in Eriwan würden mit Drohungen arbeiten und versuchen, im Ausland Unterstützung für ihre Forderungen zu bekommen, hieß es da noch unverblümter. Namentlich wurden zwei Mitglieder des Karbach–Komitees, I. Muradjan und K. Nagepetjan, kritisiert, weil sie einen Aufruf zur Besonnenheit ignoriert hätten. Die Organisatoren des Komitees seien „zynisch und perfid“ bestrebt, die Schwierigkeiten auszunutzen, die bei der Verwirklichung des Reformprogramms von Gorbatschow aufträten. Mehr als 400 Personen sind nach Angaben der Staatsanwaltschaft in der aserbeidschanischen Industriestadt Sumgait festgenommen worden und unter Beschuldigung des Mordes, der Plünderung oder anderer Vergehen unter Anklage gestellt worden. Bei den Auseinandersetzungen seien 32 Personen unterschiedlicher Nationalitäten ums Leben gekommen und 197 weitere, darunter 100 Polizisten, verletzt worden. Überdies seien zwölf Fälle von Vergewaltigung registriert, 100 Wohnungen ausgeraubt sowie 26 Verkaufstellen und 30 Autos beschädigt worden. Der Bericht, der laut TASS von einer Sonderkommission der Staatsanwaltschaft zusammengestellt wurde, war die bislang umfassendste Darstellung der Vorgänge in Sumgait.
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