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Zukunftsvisionen der Atomindustrie

■ Die Hochtemperaturreaktor–Linie und wie ihre Erfinder sie verkaufen wollen / Der Reaktor der Zukunft soll nicht mehr nur Strom liefern, sondern zur „universellen Wärmeerzeugungseinheit“ verwandt werden können / Schärfster Vorschlag bislang: AKW auf schwimmender Plattform vor der Küste

„Geniale Ideen sind selten, und doch werden immer wieder welche geboren.“ So läßt sich der Erfinder der bundesdeutschen Hochtemperaturreaktor–Linie, Rudolf Schulten, in den Werbeschriften der Atomindustrie feiern. Und in der Tat, Eigenschaften und Anwendungsmöglichkeiten, die der weitgefächerten Palette der nach den Tennisball–großen Graphitbrennelementen „Kugelhaufen–Reaktoren“ getauften deutschen Spielart dieser Reaktorlinie nachgesagt werden, grenzen bisweilen ans Mystische. Original–Ton Hersteller–Broschüre: „Nun hat sich am „Wunderknaben“ der Kerntechnik, am Hochtemperaturreaktor, eine Vision entzündet, die Idee, in der Energiewirtschaft künftig mit den Rohstoffen ähnlich klug zu verfahren, wie es die chemische Industrie seit langem tut. Als „Brüter–Vater“ Wolf Häfele vor zwanzig Jahren in Industrie und Ministerien antichambrierte, um seine „phantastische Idee“ zu verkaufen, klang das ganz ähnlich. Damals wie heute wucherten die Verkäufer mit ungedeckten Wechseln auf die Zukunft. Glaubt man den Verfechtern dieser „fortgeschrittenen Reaktorlinie“, so befinden sich diverse Reaktortypen seit nunmehr zwanzig Jahren unmittelbar vor dem Durchbruch zum Markt. Tatsächlich in Betrieb sind in der Bundesrepublik ein Versuchsreaktor in Jülich und ein Prototypreaktor in Hamm–Uentrop, der Strom liefert, wenn er nicht gerade „einige Kinderkrankheiten“ (Jürgen Vollradt vom Betreiber Vereinigte Elektrizitätswerke) ausheilen muß. Der „Wunderknabe der Kerntechnik“ zeichnet sich aus durch „einfache Technik, gutmütiges Störfallverhalten, leichte Bedienbarkeit, hohe Verfügbarkeit, flexiblen Brennstoffkreislauf“ und andere Wunderdinge mehr. Die Tatsache, daß bisher keinerlei Endlagerkonzept für die abgebrannten Brennelement–Kugeln existiert, liest sich bei den HTR– Verkäufern so: „Die Brennelemente können ohne aufwendige, nachträgliche Behandlung einer Langzeitzwischen/–Endlagerung zugeführt werden. Der Brennstoffkreislauf ist nicht mit der Wiederaufbereitung belastet“. Der Hochtemperaturreaktor ist nicht etwa ein simples Atomkraftwerk zur Stromerzeugung - obwohl weltweit nichts anderes in Betrieb ist -, im Jargon der Verkäufer ist er eine „universelle Wärmeerzeugungseinheit“. Neben Strom soll der HTR in Zukunft Wärme von 150 bis 1.000 Grad Celsius liefern, als „Industriekraftwerk“ für die chemische In dustrie, als stadtnahes „Heizkraftwerk“ zur Fernwärmeerzeugung oder als Hochtemperatur–Prozeßwärmelieferant zur Kohleveredlung, zur Wasserspaltung und zur Gewinnung von Fernenergie. Die Kohleveredlung soll schließlich Treibstoffe und Chemieprodukte liefern, die Wasserspaltung Wasserstoff, der wiederum direkt als Treibstoff in der Mineralöl– oder in der chemischen Industrie genutzt werden soll. Reaktor–Wasserstoff wird auch als Alternative zur Kohle im Hochofenprozeß bei der Gewinnung von Roheisen angepriesen. Etwas Besonderes haben sich die HTR–Verkäufer mit einem System mit dem wunderbaren Namen „Adam– und Eva“ zur Gewinnung atomarer Fernwärme ausgedacht. Dabei sollen Methan und Wasserdampf bei hohen Temperaturen in Wasserstoff und Kohlenstoff aufgespalten, „kalt“ über Fernleitungen zum Bestimmungsort transportiert und dort unter Freisetzung der Wärme in Methan zurückverwandelt werden. Interatom–Mann Steinwarz würde auch vor exotischen Anwendungsmöglichkeiten nicht zurückschrecken. Zur Meerwasserentsalzung möchte er seine HTR–Module „auch als schwimmfähige, auf Transportplattformen montierte Stationen liefern, die küstennah eingeschwemmt oder als Off–shore– Anlagen betrieben werden“. Würden im Inland auch nur Teile der „breitgefächerten Anwendungsmöglichkeiten“ Realität, bliebe vor allem die Kohle auf der Strecke, deren Beschäftigte seit fünfzehn Jahren mit der Formel „Kohle und Kernenergie“ bei der Stange gehalten werden. So weit wird es wohl nicht kommen. Werkstoffe, die über längere Zeiten die angestrebten hohen Temperaturen unter gleichzeitig hohen mechanischen Belastungen aushalten könnten, stehen bis auf weiteres nicht zur Verfügung. An eine wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Systemen ist für sämtliche Anwendungen mit Ausnahme der reinen Stromerzeugung auf absehbare Zeit überhaupt nicht zu denken. Vor zwei Jahren untersuchte das Öko–Institut für die Grünen die Zukunftsaussichten der HTR–Linie. Das Fazit: „Eine technologisch begründbare Marktnische (für die HTR–Linie) ist nicht erkennbar, auch nicht bei kleineren Leistungseinheiten ... Wir ziehen daraus den Schluß, das Forschungsabenteuer der Entwicklung der HTR–Technologie endlich abzubrechen, um die Forschungshaushalte nicht noch weitere Jahrzehnte zu belasten.“

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