Mitterrands „Oui“

■ Nach langem Zögern erklärt der Präsident seine erneute Kandidatur/ Aus Paris Georg Blume

Seit Monaten bewegte das politische Frankreich nur eine Frage: Macht ers oder macht ers nicht? Mit der jetzt erklärten Kandidatur hat Mitterrand den Zeitpunkt äußerst geschickt gewählt. Erst konnte er wochenlang präsidialen Wahlkampf führen, ohne sich in die Niederungen der politischen Schlammschlacht politische Mitte für sich reklamieren. Für den Fall seines Sieges kündigte Mitterrand die Ernennung eines neuen Premiers und gegebenenfalls die Auflösung der Nationalversammlung an. Die Frage war tausendmal gestellt. Sind Sie Kandidat? Die Antwort wußten alle. Franois Mitterrand sprach am Dienstag vor den Kameras der Abendnachrichten ein einfaches, unbetontes „Ja“. Die Spannung fehlte, und die Überraschung blieb aus. Das Nicht–Ereignis war perfekt. Es fällt gar nicht auf: Der Präsident ist Kandidat. Also ist der Kandidat umgekehrt auch Präsident, und Präsident soll er bleiben. Das ist doch selbstverständlich, oder? Dennoch bleibt: zum vierten Mal, nach 1965, 1974 und 1984, begibt sich Franois Mitterrand in das Rennen um die französische Präsidentschaft. Nur De Gaulle schaffte bisher die Wiederwahl. Und der Präsident, 71 Jahre alt, ist heute der große Favorit. Allen Umfragen zufolge liegt er im zweiten Stichwahlgang mit drei bis fünf Prozent vor seinen rechten Konkurrenten, Jacques Chirac und Raymond Barre. Sein Wählerpotential umfaßt bei der Stichwahl nach wie vor die gesamte Linke, aber auch weite Teile der politischen Mitte. Die Frage ist er laubt: Steht Frankreich mit der Präsidentschaftswahl vor einem Mitterrand–Referendum? Zweifel sind angebracht. Die Franzosen, die Chirac 1986 seine Parlamentsmehrheit gaben, stehen nach wie vor mehrheitlich politisch rechts. Chiracs Wahlkampf zielt deshalb auf die Rechts–Links– Polarisierung und die Vereinigung der Rechten. Dabei setzt er auf die Muster des französischen Wählerverhaltens in den siebziger Jahren. Entscheidend für den Wahlausgang in diesem Jahr wird in der Tat sein, inwieweit die Franzosen in der Präsidentenwahl eine politische oder personelle Entscheidung sehen. Franois Mitterrand will deshalb kämpfen. „Ich sehe das Risiko, daß das Land in die Zwiste und Streitigkeiten zurückfällt, die es so oft ausgehöhlt haben“, begründete der Präsident seine Kandidatur. „Ich will, das Frankreich einig ist. Und das wird es nicht sein, wenn es in die Hand von intoleranten Menschen fällt, von Par teien, die alles wollen, von Sippschaften, von Banden.“ Auch wenn sich Mitterrand in dieser Rede politisch nicht selbst bekennt und sich weiterhin in der Rolle des nationalen Schiedsrichters definiert, sind seine Worte eine Kriegserklärung an Premierminister Jacques Chirac. Im Namen des „zivilen Friedens, des sozialen Friedens“ (Mitterrand) will der Präsident gegen jene Rechte zu Felde ziehen, die sich in den zwei vergangenen Jahren der „cohabitation“ unter der Führung Chiracs unerbittlich alle Machtpositionen in Staat, Medien und Privatindustrie eroberte, ohne auch nur auf den Koalitionspartner, die rechts– liberale UDF, Rücksicht zu nehmen. Mitterrand will „Front bieten“ gegen den Chirac–Staat. Diese Strategie hatte der Präsident bereits 1986 gewählt, als er Chirac zum Premierminister und damit zu seinem wahrscheinlichsten Gegner im jetzigen Wahlkampf erkor. Mitterrand mußte jedoch mit seiner Kandidatur warten, bis Chirac den Rivalen im eigenen Lager, den UDF–Kandidaten und ehemaligen Premierminister Raymond Barre, abgehängt hatte. Barre, mit seinem Ruf als Staatsmann und selbst in der politischen Mitte verankert, wäre für Mitterrand der weitaus unbequemere Gegner im zweiten Wahlgang geworden. Da dies durch den ebenso spektakulären wie erfolgreichen Wahlkampf Chiracs vorläufig ausgeschlossen scheint, kann sich Mitterrand nun gar der Argumente der Barre–Anhänger bedienen, die gerne den unteilbaren Staat propagieren, und den eigenen Wahlkampf völlig auf eine Mitterrand–Chirac–Konfrontation ausrichten. De Gaulle meinte 1965, erst gar keinen Wahlkampf ausstehen zu müssen, und Mitterrand zwang ihn - damals unerwartet - in die Stichwahl. Giscard erklärte 1981, bereits Monate vor der Wahl, seine Kandidatur, und Mitterrand dominierte den Wahlkampf. De Gaulle war zu wenig Kandidat, Giscard zu sehr. Heute nimmt Franois Mitterrand den Mittelweg in die politische Mitte.