: Städtekrieg: Alltag unter Raketen
■ Nach den verheerenden Angriffen auf Bagdad und Teheran weitere Städte am Golf unter Raketenbeschuß / Bisher feuerten beide Seiten über 160 Mittelstreckenraketen ab / Erste Augenzeugen aus Teheran
Teheran (afp/wps) - Einen Tag nach den verheerenden Raketenangriffen auf Teheran und Bagdad haben beide kriegführenden Länder den Städtekrieg auch am Freitag fortgesetzt. Radio Teheran meldete den Abschuß von vier Raketen auf die irakischen Grenzstädte Basra und Khanaqin. Zuvor soll Irak Luftangriffe gegen die iranischen Städte Hamadan, Bachtaran und Chuchtar gerichtet haben. Über die Zahl der Opfer gab es zunächst keine Angaben. Bei dem Angriff auf Bagdad waren am Vortag nach offiziellen Berichten 13 Menschen getötet und 68 verletzt worden. Seit der Wiederaufnahme des Städtekriegs Ende Februar soll Teheran rund 50 Raketen auf iranische Städte abgeschossen haben. Irak hat in dieser Zeit 109 Raketen auf Wohngebiete gerichtet. Die Zahl der Todesopfer und Verletzten bei diesen Angriffen gehen in die Hunderte, sind allerdings nicht genau bekannt. Über die Situation nach einem Raketenangriff auf Teheran Anfang der Woche liegen jetzt Zeugenaussagen westlicher Reporter vor. Der Amerikaner Patrick E. Tyler berichtet: Montagnachmittag 16.10 Uhr: Am Horizont, hinter den schneebedeckten Bergspitzen, tauchte ein weißer Kondensstreifen auf, der den blauen Himmel durchzog. Das iranische Neujahrfest in der 12–Millionen–Einwohner–Stadt wurde jäh unterbrochen, eine unheimliche Ruhe machte sich breit. Kaufleute, Taxifahrer, Soldaten, Frauen mit schwarzen Kopftüchern, die ihre ausgelassenen Kinder hüteten, ließen alles stehen und liegen und starrten nach oben, während die Geschosse noch am Himmel ihre letzte Raketenstufe abstießen. Und dann tauchten die irakischen Scud–B–Raketen in die ausgedehnten südlichen Vorstädte ein. Die zweite irakische Rakete des Tages hat das Wohnviertel zerbombt. Der unerbittliche Städtekrieg hat mittlerweile Hunderten von Zivilisten in Teheran, Bagdad und einem halben Dutzend anderer Städte der beiden kriegführenden Länder das Leben gekostet. Die erste Rakete des Tages schlug an diesem Montag kurz nach Mitternacht in Teheran ein. Der donnernde Einschlag im nördlichen Stadtteil Teherans, wo Ayatollah Ruhollah Khomeini lebt, alarmierte die städtische Revolutionsführung. Iran, das weniger als die Hälfte der Langstreckenraketen abgeschossen hat, die Irak allein im vergangenen Monat ver Fortsetzung auf Seite 6 feuerte, scheint keinen langfristigen Vorteil darin zu sehen, den seit sieben Jahren andauernden Krieg weiter zu eskalieren. Die Zivilbevölkerung beider Seiten ist in dem Gemetzel zur Geißel der militärischen Gewalt geworden. Der Irak, der über einen besseren Zugang zu modernerem Kampfgerät verfügt und dessen politische Führung dringend das Ende des Krieges anstrebt, hat plötzlich seine Kriegstaktik gegenüber Iran verändert. In Dutzenden Wohngebieten Teherans ist die Zerstörung durch Raketen sichtbar. In den vergangenen Monaten hat der Irak in diesem wütenden Wechsel mehr als 60 Langstreckenraketen abgefeuert. Für herumreisende Journalisten signalisieren eingeschlagene, mit zerrissenem Stoff verhängte Fenster, daß sie sich dem Gebiet nähern, wo eine Rakete eingeschlagen ist. In den Zentren der Einschlagzone sahen Reporter Dutzende von schwer beschädigten oder total zerstörten Gebäuden: Krankenhäuser, eine Markt halle auf einem überlaufenen Platz, ein Theater, kleine Geschäfte und Büros. Das iranische Regime äußerte sich ziemlich vorsichtig über die Gesamtzahl der Opfer, aber Ambulanzwagen rasen herum und in den Krankenhäusern sieht man die grimmigen Minen von Verwandten. „Die Regierung will Panikstimmung im Volk vermeiden“, sagt ein Iraner, der in Kontakt mit dem islamischen Regime steht. „Sie kündigen aber immer noch jede Rakete im Fernsehen an“, weil die Bevölkerung ohnehin die Einschüsse hört. Der Knall des Aufpralls durchzieht die ganze Stadt und wird von den Bergen in Richtung Norden zurückgeworfen. Die Menschen wurden angewiesen, mehr Zeit bei ihren Verwandten außerhalb der Stadt zu verbringen. Von der Gegend ums Kaspische Meer im Norden des Landes wird erzählt, es sei belagert von Einwohnern Teherans, die ihre Ferien ausdehnten und sogar ihre Arbeit in der Stadt aufgeben würden. Viele von denen, die trotz des Neujahrsfestes in Teheran blieben, sind jetzt die Leidtragenden des Krieges. Nachbarschaftskomitees haben Gruppen organisiert, die angesichts der akuten Unterversorgung Glas beschaffen sollen. Mit Plastikscheiben bewaffnet schwärmen freiwillige Revolutionäre in die schwer getroffenen Stadtteile, um Tausenden von Familien zu helfen, die gegen den kalten Nachtwind kämpfen, während sie auf neue Fensterscheiben warten. In Teherans leeren Fenstern ist jede Art von wehenden Decken zu sehen. Eines der wichtigsten Haushaltskomitees stellt Bänder her, damit die Stadtbewohner die brüchigen Glasplatten festbinden können. „Die Leute waren völlig überrascht, als die Iraker ihre Raketen losschossen“, sagte ein iranischer Beamter. „Und sie haben große Angst“. Neuigkeiten über Einschläge verbreiten sich schnell. Bei einem möglicherweise unbeabsichtigten Angriff schlug vor kurzem eine Rakete in eine Spielhalle ein. Die lag nur ein paar hundert Meter entfernt von der Sowjetischen Botschaft. Die Druckwelle zerschmetterte alle Frontfenster der Botschaft. Einige Tage zuvor waren iranische Studenten in einem Protestmarsch zur sowjetischen Botschaft gezogen, weil die Sowjetunion Scud–B an den Irak verkauft.
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