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Der Frühling kommt auf leisen Sohlen

■ In der DDR wird der Spielraum für die Kultur allmählich größer / Eine Spurensuche von Holger Eckermann

Bodenfrost in der DDR–Innenpolitik, Frühling in der Kultur. Querdenkende mit langem Atem spüren, daß die Hürden niedriger werden. Die Hardliner freilich laufen Sturm. Am Wochenende druckte das Neue Deutschland den Brief einer Leningrader Dozentin ab - auf eineinhalb Zeitungsseiten. Sie warnt vor „linksliberalem Intelligenzlersozialismus“ und den Gefahren der Umgestaltung. Überschrift: „Ich kann meine Prinzipien nicht preisgeben.“ Ein Schreckschuß für die kreativen Geister in der DDR?

„Wo erfüllt sich ein DDRler die Sehnsucht nach Süden? Im Kino.“ Toni Krahl, Sänger der populären DDR–Rockgruppe City, ist für flotte Sprüche auf der Bühne immer gut. „Casablanca“ heißt eine Langspielplatte, die seine Gruppe im vergangenen Frühjahr in der DDR veröffentlicht hat, mit spektakulärem Erfolg. Die Scheibe hat seitdem in der DDR Rockgeschichte gemacht - ihrer Texte wegen: „Vom Winde verweht hat alles angefangen und sie will woanders sein.“ Leinwandillusionen kontrastieren mit Alltagsfrust, die große weite Kinowelt wird Maßstab des realen Lebens. Texte über Suff und den „Mustopf des Lebens“, und Zeilen wie diese: „An manchen Tagen sage ich mir, die Hälfte ist rum und du bist immer noch hier... im halben Land und der zerschnittenen Stadt, halbwegs zufrieden mit dem, was man hat.“ Texte, „die weniger auslegbar sind“, wünschte sich prompt die DDR–Plattenkritik im Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend, der Tageszeitung Junge Welt. Es sei eine Schande, wenn „damit auch Leute hausieren gehen könnten, die unsere Errungenschaften mies machen wollen“, schrieb die stellvertretende Chefredakteurin des Blattes. Zuvor allerdings hatte schon eine Kulturredakteurin der Zeitung die Platte gelobt: Es lohne sich, die Texte nachzulesen. Rede und Gegenrede - eine Premiere im DDR– Blätterwald. Mehr noch. Nach Leserprotesten meldete sich die Gruppe selbst zu Wort. Toni Krahl führte mit den Chefredakteuren ein Streitgespräch und machte sich stark - für „Leute, die handeln und sich nicht behandeln lassen“. Kernaussage: „Kunst erhält nicht nur einen gesellschaftlichen Auftrag, sie erteilt auch einen. Das darf man ihr nicht ankreiden, und eine Schere im Kopf, wegen Berührungsängsten mit der Realität, das wäre eine sehr zweischneidige Sache.“ Die Offenheit wurde belohnt. City erhielt die Titel „Platte des Jahres“ und „Band des Jahres“ in der DDR. Und vorletzte Woche kam noch eine Art Goldene Schallplatte dazu, die „Goldene Amiga“ für 120.000 verkaufte Stück. Als sie dann bei einem Konzert im „Palast der Republik“ zur Band des Jahres gekürt werden sollten, bewiesen die vier Musiker neuerlich Zivilcourage. Den Text über das „halbe Land und die zerschnittene Stadt“ wünschten sich die Veranstalter nicht im Programm. Demonstrativ legte die Gruppe an der Stelle, an der der Text sonst ertönt, eine Pause ein. Und manche Kulturfunktionäre lernen auch gerne dazu. In Ost–Berlin können neuerdings Amateurbands ohne „zensierendes“ Vorspiel beim Rat der Stadt auftreten. Mal bizarr avantgardistisch, mal tiefsinnig im Text. Die Mixpickles problematisieren in einem Lied sogar faschistische Tendenzen unter Jugendlichen. Mit „Heil Hitler“ beginnt der Text. Zweideutig manchmal auch die Namen von Discoveranstaltungen, so wie vor ein paar Tagen in einem Jugendclub auf der Fischerinsel in Ost–Berlin: „Mit dem Pop durch die Wand“. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt. „Gänzlich wird sich Glasnost bei uns Mitte Juni durchgesetzt haben“, so kursiert ein Witz in Ost– Berlin, „um dem Sturm auf die Mauer vorzubeugen, wenn Pink Floyd und Michael Jackson im Westen vor dem Reichstag rocken.“ DDR–Funktionären schwant Böses, vom Westen wirbt der RIAS heute schon penetrant genug. Immerhin, mit Pink Floyd wurde das Gespräch gesucht, damit sie auch in Ost–Berlin ein Open–Air–Konzert geben. Joe Cocker wird Ende Mai in der „Hauptstadt“ auftreten, Uriah Heep war jüngst da, und Depeche Mode spielte zum 42. FDJ–Geburtstag. „Vorhang auf“ für Westkünstler in der Populärkultur, also nicht nur im B–750–Jubeljahr 1987. Auch das DDR–Fernsehen bekam dieses Jahr erneut einen beachtlichen Etat zugeteilt, damit er Übertragungsrechte erwerben kann. Der DDR–Rundfunk gibt sich schon länger offener denn je - auch um mit der Westkonkurrenz mitzuhalten. Und nicht nur im Telefoninterview mit Alfred Dregger, wie kürzlich geschehen. Der Jugendfunk DT 64 interessiert sich mitunter für Psychedelic–Bands aus dem Westen, die beim RIAS oder SFB keine Chance mehr haben, oder es wird aus den kritischen Texten des DDR–Schriftstellers Christoph Hein gelesen - auch dessen DDR– Massenmedienschelte und sein Eintreten für offeneres Denken werden nicht ausgelassen. Ein Wandel im Stillen. „Probleme unseres Neuaufbaus in den ersten Nachkriegsjahren“ - so umschreibt das Neue Deutschland in einer Bildunterzeile den Inhalt von Heiner Müllers „Lohndrückern“, die ein– bis zweimal im Monat in Ost–Berlin auf dem Theaterspielplan stehen. Immerhin: Das ND räumt damit „Probleme“ in vergangenen Zeiten ein. Die Rehabilitierung Hei ner Müllers in der DDR wird als Markstein eier neuen Entwicklung gesehen, zumal sich Müller nicht scheut, weiterhin ureigene Wege zu gehen. So wird Mitte April in einer West–Berliner Galerie ein Steindruckband von ihm präsentiert, von dem Ex–Dresdener Maler Ralf Winkler (Penck) illustriert, von dem Ex–Ost–Berliner Lyriker Sascha Anderson organisiert. Mit den Texten von Müllers Wolokolamsker Chaussee IV und V. Der Preis: 3.500 DM. „Vieles, was uns in der DDR noch verboten war, ist dort mittlerweile ungeahndet gang und gäbe“, beobachten DDR–Emigranten wie Sascha Anderson. Die Mehrzahl künstlerisch–philosophischer Samisdat–Drucke kann heute unbehelligt vertrieben werden, und selbst einige Bibliotheken nehmen sich inzwischen dieser Selbsthilfe–Zeitschriften an, ohne sie im Giftschrank zu verbergen. Die Zahl dieser Eigendrucke wächst. (Willkommene Hilfe dabei: Egmont Hesse (Hg.), Sprache und Antwort - Stimmen und Texte aus einer anderen Literatur aus der DDR, Fischer Verlag, Ffm 1988.) Der Genex–Geschenk– Versand in die DDR erlaubt Bundesbürgern neuerdings sogar, Fotokopiergeräte in den Osten zu verschenken. Für 1.998 DM das Stück. Junge Autoren, die bislang nur „heimlich“ publizieren konnten, stehen im neuen DDR–Börsenblatt für den Buchhandel (sogar mit Porträtfoto) für den Herbst angekündigt - die sprachlich eigenwilligen Lyriker Rainer Schedlinski und Bert Papenfuß–Gorek etwa. Auch Dauervisa für den Westen gibt es häufiger als früher ohne Probleme: Zum Finale der Giacometti–Ausstellung in West– Berlin standen sich mehr als 100 DDR–Künstler gegenseitig auf den Füßen... Und der Szenefotograf Thomas Florschütz vom Prenzlauer Berg durfte plötzlich in die USA verreisen, von der Deutschen Leasing AG mit dem „Europäischen Fotografenpreis“ gesponsort - obwohl von ihm noch ein Ausreiseantrag in die Bundesrepublik läuft. Kulturzeitschriften wie Sinn und Form, Der Sonntag, Film und Fernsehen und die Bildende Kunst wachsen über sich hinaus und liefern Grundbausteine einer neuen Streitkultur. Zu Nietzsche, Expressionismusrezeption, zur allgemein als enttäuschend kritisierten 10. Kunstausstellung der DDR oder zum „Mangel an sozialer Wahrheit“ im Kinofilm der DDR (Koolhase). In Leipzig nutzt die Produzentengalerie EIGEN + ART pausenlos einen heißbegehrten Spielraum für künstlerische Happenings, der Staat akzeptiert schulterzuckend. Und jüngst eröffnen in Berlin–Treptow Vertreter des Rats der Stadt stolz eine Ausstellung des „wilden“ Malers Hartwig Ebersbach und verkünden, sie seien „auf die Diskussion gespannt, die das Werk entfacht“. Diese Formulierung baut dem Staat Brücken und ermöglicht die Toleranz gegenüber vielfältigen Ausdrucksformen, die er bislang vermissen ließ - was so viele Kreative vertrieb. Aber noch ist das „Neue Denken“ nur ein „Neuer Benimm“, und zumeist sind es Einzelkämpfer, die ihre langgehegten Projekte durchboxen. Beispiele: Die Akademie der Künste (mit einer Beuys–Ausstellung), der Theaterregisseur Tragelehn in Dresden (Heiner Müller), der Filmemacher Heiner Carow (“Die Russen kommen“), oder Kunstwissenschaftler und -kritiker, die längere Zeit in der Ecke standen (Klaus Werner oder Christoph Tannert). Andere Künstler stoßen auf die Grenzen des „Neuen Benimm“. Monika Maron feiert gerade Jubiläum: zehn Jahre „Flugasche“, ihr Roman über die dicke Luft in Bitterfeld. Das Buch ist noch immer ohne Aussicht auf Veröffentlichung in der DDR. Ein USA–Visum wurde der Autorin zwar genehmigt. Doch die Bedingung lautet: Rückkehr in die DDR erst nach drei Jahren. Hier hat sich die Politik eingemischt, genau wie in der barschen Kritik des Neuen Deutschland an dem sowjetischen Film „Die Reue“ - einer Stalinismuskritik - und der Zensur der sowjetischen Zeitschrift Neue Zeit, die kürzlich in der DDR nicht ausgeliefert werden durfte. War Kulturpolitik in der DDR lange Zeit ein verläßliches Barometer für den Zustand der innenpolitischen Kultur, so haben heute eine Reihe Kulturverantwortlicher und die ideologischen Hardliner um Stasi–Chef Mielke offenbar verschiedene Paar Schuhe an. Im Aufbruch sind die einen, in Panik die letzteren. Panik allerdings verleiht den festeren Tritt.

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