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Bremser oder Helfer Gorbatschows?

■ Jegor Ligatschow, der zweite Mann hinter Gorbatschow, ist für die einen Wortführer der konservativen Strömung im Kreml und für die anderen derjenige, der im Sinne der Reform in der Partei die Fäden zieht / Ligatschow steht für die alten Tugenden in der Sowjetunion

Berlin (taz) - Ist er der große Bremser der Perestroika? Ist der Antireform–Artikel in der Sowjetskaja Rossija von ihm inspiriert? Jegor Ligatschow, Politbüromitglied und ZK–Sekretär, der Mann auf dem Sessel des Chefideologen der Partei, ist seit der offenen Auseinandersetzung in den sowjetischen Zeitungen über den Kurs der Perestroika ins Gerede gekommen. Immerhin sprechen einige Indizien für Ligatschows Bremserrolle. Der ZK–Sekretär hatte im vorigen Sommer bei einer ähnlichen Pressefehde wie die der letzten Wochen seine Hand im Spiel. Damals wetterte die vom Kommunistischen Jugendverband Komsomol herausgegebene Zeitung Molodaja Gwardija unter Berufung auf Ligatschow gegen die Reformerzeitungen Liternaturnaja Gaseta, Sowjetskaja Kultura, Nedelja und die von der Presseagentur Nowosti herausgegebenen Moskow News sowie die Illustrierte Ogonjok. Der Vorwurf gipfelte in der Unterstellung einer Orientierung an kleinbürgerlichen Inhalten, an der Anpassung an Geist losigkeit und Konsumdenken der westlichen Massenkultur. Im selben Artikel zitierte die Molodaja Gwardija aus einer Rede, die Ligatschow ein halbes Jahr zuvor in Saratow vor Schriftstellern gehalten hatte und in der er gegen eben diese Elemente der „bürgerlichen Massenkultur“ gewettert hatte. Alle Formen der westlichen Dekadenz werden von ihm kritisch betrachtet. Seine Tiraden gegen die Rockmusik, die er nach wie vor für Gejaule hält, haben ihn in der Moskauer Jugend nicht gerade populär werden lassen. Ruhe und Ordnung, Sauberkeit, Fleiß und Prinzipientreue sind für ihn Werte, die eine sozialistische Persönlichkeit auszeichnen muß. Ligatschow appelliert an die Disziplin der Kommunisten in der Partei und an die der Bevölkerung. Jegor Ligatschow beherrscht den Apparat der Partei. Als ZK– Sekretär liefert er dem Politbüro, dem er selbst angehört, die Vorlagen zur Beschlußfassung und kann so die Diskussion im höchsten Gremium der Partei entscheidend beeinflussen. Von den heute unter Gorbatschow den beiden obersten Gremien angehörenden Spitzenfunktionären nimmt Ligatschow fast so eine Sonderstellung ein, wie sie einst der inzwischen schon legendäre Chefideologe Michail Suslow unter Nikita Chruschtschow begründete und unter Leonid Breschnew ausbaute. Und so ist es kein Wunder, daß, wie in der Affaire Jelzin deutlich wurde, ohne seine Zustimmung kaum eine Entscheidung getroffen werden kann. Ligatschow aber einen prinzipiellen Widerstand gegen Gorbatschow und dessen Reformpolitik zu unterstellen ist gerade aus diesem Grund falsch. Wenn dies so wäre, hätte der Generalsekretär wohl kaum seine bisherige Politik so weitgehend vorantreiben können. In der Pariser Zeitung Le Monde hat Ligatschow denn auch bestritten, daß er Differenzen mit Gorbatschow hätte, und erklärt, sie lägen beide auf der gleichen Wellenlänge. Ligatschow hat mit Billigung Gorbatschows die Aufgabe übernommen, dessen Kurs nach rückwärts in der Partei abzusichern und darauf zu achten, daß der Funktionärstroß und die Partei insgesamt mitkommen. Gegenüber dem sprühenden Vorwärtsdrang des Generalsekretärs, so andere Analytiker der sowjetischen Politik, wachse ihm die Rolle zu, vor zu schnellem und überstürztem Handeln zu warnen. Dennoch sollte nicht übersehen werden, daß, wie in der Behandlung der Nationalitätenprobleme deutlich wird, auch inhaltliche Differenzen zwischen den beiden führenden Genossen im Kreml existieren. Erich Rathfelder

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