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Daheim wird Chirac zum Volkstribun

■ Premierminister Chirac legt in seiner Heimatregion eine letzte Verschnaufpause vor dem Endspurt ein / Jean–Marie Le Pens „Front National“ ist zum entscheidenden Faktor geworden

Seine Lippen sind eingefallen, Zähne nicht mehr erkennbar. Sie nannten ihn den „Spanier“, als sein Rugbyspiel vor Jahrzehnten die Lokalszene begeisterte. Noel Maurin hat sich in seinem Leben hart geschlagen, erst für den ovalen Ball und später für Jacques Chirac. Fast bedauernd klingen heute die Worte des Vorsitzenden der gaullistischen Partei (RPR) im Departement Correze: „Die Widersprüche sind verschwunden. Früher haben wir noch mit Sozialisten und Kommunisten gestritten. Mit der Zeit sind sie alle auf unsere Seite gewechselt.“ Noel Maurin braucht für die diesjährige Präsidentenwahl nicht mehr zu kämpfen. Die Correze, dieser arme Bauernfleck im südlichen Zentralmassiv, gehört Chirac. Präsidentschaftskandidaten lieben es, zu besonderer Zeit die politische Heimatreise anzutreten. Am Wochenende kehrte Jacques Chirac zum Geburtsort seiner Eltern zurück - auf dem Höhepunkt seiner bisher sensationell erfolgreichen Wahlkampagne. Endlich sah man den Chirac, wie ihn die Franzosen lieben. Das Bad in der Menge ist sein liebster Polit–Sport. So rundum glücklich erscheint der Premierminister, daß es schwer fällt, ihm Heuchelei zu unterstellen. Chirac gehört eben nicht zu jener Sorte von Politikern, die in Paris normalerweise regieren. Ihm fehlt die intellektuelle Ausstrahlung eines Franois Mitterrand ebenso wie die bourgoise Eitelkeit eines Giscard dEstaing. Er ist der volkstümliche Vollblutpolitiker, in dem jeder Bauer der Correze seinen Interessenvertreter in Brüssel sieht. Sowohl Giscard wie Mitterrand verlangten Respekt, hielten jedoch Abstand zum Volk. Chirac verlangt Identifikation. „Les Franais a lElysee - die Franzosen im Elyseepalast“ - dieser Wahlspruch Jean–Marie Le Pens ist ihm auf den Leib geschneidert. Zwischen Mitterrand und Chirac steht heute - mehr als ein politisches Programm - ein unterschiedliches Verhältnis zwischen Staat und Volk zur Wahl. So war das Wochenende für den Premierminister eine Verschnaufpause, nicht etwa im Rennen mit Mitterrand, den er von hier aufs Schärfste anging, sondern mit Jean–Marie Le Pen, seinem volksnahen Nebenbuhler. „In der Correze stört uns die Front National nicht“, kann Noel Maurin problemlos kommentieren. „Bei uns kleben sie keine Plakate und halten keine Versammlungen.“ Warum auch? Im Chirac–Land liegt der Stimmenanteil der Rechtsradikalen bei zwei bis drei Prozent, so niedrig wie sonst nirgendo im Land. Ganz allgemein leisten die ländlich–konservativen Regionen in Frankreich den erfolgreichsten Widerstand gegen die Versuchung Le Pen. Jacques Chirac hatte die Verschnaufpause dringend nötig. Wie ein Lauffeuer hatte sich in der vergangenen Woche die Idee im Land verbreitet, daß weniger die beiden Favoriten als vielmehr Jean–Marie Le Pen über den Ausgang der Präsidentschaftswahlen entscheidet. Der Premierminister hatte so fort reagiert: „Was Frankreich erwartet, wenn der sozialistische Kandidat wiedergewählt würde, das ist bezüglich der Ausländerfrage die Großzügigkeit der Jahre 1981–85 und zudem das Wahlrecht für Ausländer. Darüber sollten all diejenigen nachdenken, die uns vorwerfen, im Kampf gegen die Unsicherheit und die illegale Immigration seit 1986 nicht genug getan zu haben.“ Mit dieser eindeutigen, taktisch kalkulierten Geste in Richtung der Le Pen– Wähler begab sich Jacques Chirac auf das für ihn wahlentscheidende Terrain. Mitterrand konterte einen Tag später, am Freitag: Das Thema des Ausländerwahlrechts sei eines der Mittel, die er nicht etwa unschuldig Gaullisten und Front National angeboten habe, nur damit sie als Zwillingsbrüder Seite an Seite stünden. Der Präsident hatte sich zuvor „persönlich“ für das Ausländerwahlrecht bei Gemeindewahlen ausgesprochen, dem aber hinzugefügt, daß er „nicht in der Lage sei“, eine solche Maßnahme durchzusetzen. Im Kern steht natürlich nicht das Ausländerwahlrecht zur Diskussion, sondern das nunmehr von den Sozialisten beschworene Gespenst einer Allianz von Gaullisten und Rechtsradikalen für den zweiten Wahlgang am 8.Mai. Ein Wahlkampfschema, das zudem nahtlos in den von Mitterrand mit seinen „Brief an alle Franzosen“ programmierten Konservatismus paßt. In diesem Szenario wahrt der amtierende Präsident Kontinuität und status quo, während Chirac, unkalkulierbar, den Extremismus hofiert. Eine Taktik, der es an Heuchelei nicht fehlt: Je stärker Le Pen beim ersten Wahlgang auftrumpft, desto mehr muß sich Chirac den Rechtsradikalen zuwenden, desto größer ist aber auch seine abschreckende Wirkung für Wähler aus der Mitte. Demnach wählen überzeugte Sozialisten erst Le Pen und dann Mitterrand. Doch das Kalkül ist ein Spiel mit dem Feuer. Gewinnt Le Pen viele Stimmen, kann er sich zur Mäßigung bewogen fühlen und seinen Wählern eine Chirac–Wahl beim zweiten Wahlgang nahelegen. Noel Maurin erklärt die Lage auf seine Art: „Ich mag die Front National nicht, ich bin sogar dafür, daß man die Ausländer zur Beratung im Gemeinderat hinzuzieht. Wenn es Le Pen nicht gäbe, hätte Chirac genauso viele Stimmen wie Mitterrand. Also müssen wir doch erreichen, daß seine Anhänger uns wählen.“ In der Correze konnte Jacques Chirac diesen Ratschlag getrost überhören. Hier war er ganz der „junge, dynamische“ Kandidat, der dem „Großvater“ im Elysee–Palast endlich das Ruder aus der Hand nehmen will. So errang er bisher seine Glaubwürdigkeit für viele und gilt nunmehr - vor Monaten noch undenkbar - als gefährlicher Herausforderer Mitterrands. Wenn er mit seinem Image des Volkstribuns der Correze die Rechtsradikalen noch in den Griff bekommt, kann er die Wahl gewinnen. Georg Blume

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