Industrie reagierte prompt

Mit fast zweitausend Messungen von Becquerel–Werten bei Lebensmitteln monatlich liegt die Bundesrepublik zwei Jahre nach Tschernobyl an der Weltspitze. Einsam an der Spitze auch die Sensibilität: „Tschenobylitis“ wurde zu einer ernst genommenen psychischen Belastung. Weder in der DDR noch in Frankreich gibt es dieses Phänomen. Die gedruckten Auflagen der einschlägigen Strahlenzeitungen nehmen eher zu, neue Vereine bildeten sich selbst dieses Jahr noch. Extrem hohe Belastungen, die bei mehreren hundert Becquerel Cäsium pro Kilo liegen, kommen indessen nur noch selten vor: bei Haselnüssen, Wild, Pilzen und türkischem Tee. Alle anderen Lebensmittel weisen eine andere Tendenz auf: Bisher wenig oder unbelastetes Gemüse ist inzwischen schwach belastet. In der Nordsee schwimmt kein Fisch mehr, bei dem sich mit den Gammaspektrometern nicht Cäsium oder Ruthenium nachweisen läßt, das allerdings aus den WAAs von Sellafield und La Hague kommt. Bei den weiterverarbeiteten Lebensmitteln weisen die Produkte verschiedener Hersteller sehr unterschiedliche Werte auf. Das Geheimnis, zu günstigen Werten zu kommen, lüftete jetzt Rolf Sauerbier von „Jacobs Suchard“: „Wir haben nach Tschernobyl einfach schneller als die anderen gemerkt, was da an Langzeitbelastung auf uns zukommt, und haben alle verfügbaren Rohwaren vom Markt gekauft.“ Die Babynahrungshersteller vereinbarten, unter fünf Becquerel zu bleiben und halten sich daran, bis auf wenige Ausrutscher. Die großen Lebensmittelkonzerne haben ihre Labors längst für Radioaktivitätsmessungen ausgerüstet. Für sie fanden sich bald spezielle Anbieter, zum Beispiel die „Gesellschaft für Strahlenmeßtechnik“ in Münster. Ihr Geschäftsführer Reiner Hage: „Heute sind es nicht mehr so sehr die Endverbraucher, die bei uns messen lassen. Unsere größten Kunden sind die Lebensmittel– Grundstoffindustrie, Babynahrungshersteller, Süßwaren– und Tabakproduzenten.“ Auch die Länder, denen nach der Katastrophe von Tschernobyl teils hoch belastetes Milchpulver und Fleisch geliefert wurden, bringen Kunden. „Die Exportwirtschaft muß nachweisen, daß die europäischen Produkte nicht belastet sind.“ Die Bundesregierung versicherte in der Debatte zum zweiten Jahrestag, gesundheitliche Schäden seien nicht zu erwarten, und es werde zu keinen Spätschäden kommen. Die Wissenschaftler sind anderer Meinung, selbst frühere Befürworter von Atomenergie konvertierten. Was unterm Strich nach zwei Jahren bleibt, ist eine zusammengeschmolzene Bewegung, die auf die Industrie erfolgreicher einzuwirken scheint als auf die Bundespolitik. Das europäische Parlament konnte sich zwar bisher nicht mit der Forderung gegen die Kommission durchsetzenb, die Grenzwerte um das sechsfache herunterzusetzen. „Aber wir werden vor dem europäischen Gerichtshof klagen. Nicht zuletzt die starke Unterstützung durch die Bewegung ermutigt uns dazu“, versichert Undine Bloch von Blottnitz, Europaabgeordnete der Grünen. Wieland Giebel