: Walesa: Sie wollen Sklaven, keine Arbeiter
■ Auf der von Sicherheitskräften umstellten Lenin–Werft in Danzig sprach taz–Korrespondent Klaus Bachmann mit Solidarnosc–Führer Lech Walesa
taz: Der bekannte polnische Oppositionelle Jacek Kuron hat vor kurzem davor gewarnt, die Frustration der Gesellschaft könne sich zu früh entladen und der Ausbruch dann im Sande verlaufen. Jetzt ist der Ausbruch da - ist er Ihrer Ansicht nach zu früh gekommen? Walesa: Ja. Das ist ein verfrühter Ausbruch. Die Jugend der Danziger Werft hat alle überrascht, einschließlich mich. Ich habe gedacht, es würde irgendwo anders ausbrechen, aber nicht hier auf der Lenin–Werft. Weil die Lenin–Werft vollkommen entwurzelt war, die am ärgsten geschädigte Werft in jeder Hinsicht, finanziell und personell. In dieser sehr kurzen Zeit hat sich die Jugend konsolidiert und hier eine Nummer hingelegt, schneller als ältere Betriebe, die nicht so ruiniert sind. Jetzt gehts darum zu sehen, ob wir dieses Tempo ausnutzen können. Daß jetzt der Direktor erklärt hat, die gesamte Tätigkeit der Werft einzustellen, ist ein großer Erfolg für diese jungen Leute. Sie reden immer von „diesen jungen Leuten“. Heißt das, Sie identifizieren sich schon nicht mehr mit ihnen? Ich war schon 1970 und 1980 dabei und jetzt wieder. Ich bin schon alt in der Hinsicht, daß ich das alles schon mal durchgemacht habe. Ich bin schon zum dritten Mal hier in der Führungsgruppe, obwohl ich hier nicht Streikführer bin. Aber ich bin dabei. Ich fühle mich ein wenig alt, weil ich im Moment krank bin, aber nur physisch, nicht psychisch. Das Streikkomitee in Nowa Huta hat keine Forderungen nach Wiederzulassung von Solidarnosc gestellt in der Annahme, sie könnten für Direktion und Regierung unannehmbar sein. Hier dagegen hat man sofort die Legalisierung von Solidarnosc gefordert. Ist das eine realistische Forderung? Ich halte das für eine normale Forderung, hier ist ja sozusagen die Wiege von Solidarnosc. Vielleicht ist es keine realistische Forderung. Sie werden uns einzuschüchtern versuchen, drohen. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, daß sie uns hier raustragen. Aber dann kommen wir irgendwann wieder zurück. Und sie werden wieder Sklaven haben statt Arbeiter. Gestern sagte Ihr Berater Aleksander Hall, jetzt, wo die Bewegung da sei, wenn auch zu früh, müsse man ihr eine sinnvolle Gestalt geben. Wie könnte die Ihrer Ansicht nach aussehen? Eine sinnvolle Gestalt schaffen die Werftarbeiter und die Wirklichkeit, in der wir leben. Ich warte darauf, wie das werden wird und helfe dabei. In Nowa Huta ist es angeblich zu einem Zwiespalt zwischen Streikkomitee und Arbeitern gekommen. Dem Streikkomitee lag sehr an den politischen Forderungen, den Arbeitern vor allem an Lohnerhöhungen. Können Sie sich vorstellen, daß das Streikkomitee zugunsten der Lohnforderungen der Arbeiter auf die politische Anerkennung verzichtet? Ja sicher. Es gibt da einmal diesen psychischen Druck, daß viele nicht glauben, daß die Regierung den geforderten Pluralismus zugesteht. Deshalb nehmen sie lieber, was die Regierung zu geben bereit ist. Wenn die Arbeiter hier so ein Konzept haben und uns damit überzeugen oder demokratisch überstimmen, werden wir das ausführen. Dazu sind wir da. Da müssen wir ehrlich sein. Wenn das der Wille der Leute hier ist, dann müssen wir danach handeln. Wir dürfen privat damit nicht einverstanden sein, aber wir dürfen diese Leute nicht manipulieren. Als gestern der Streik in der Reparaturwerft ausbrach, erzählte ein Arbeiter, daß im Grunde die Vertreter der offiziellen Gewerkschaften den Arbeitskampf heraufbeschworen hätten. Sie hätten die ersten Forderungen erhoben, über die es dann zum Streik kam. Fangen die offiziellen Gewerkschaften jetzt an, unabhängig zu werden? Das würde ich nicht sagen, daß sie unabhängig werden. Sie sind nicht für Pluralismus, nicht für Demokratie. Einstweilen können sie keine Partner sein. Wenn sie für Pluralismus sind, dann sind auch wir für Gewerkschaftspluralismus zu ihren Gunsten. Je mehr Gewerkschaften - natürlich nicht zu viele - desto besser. Die kontrollieren sich dann gegenseitig. Die Arbeiter haben freie Auswahl. Wenn die offiziellen Gewerkschaften demokratisch werden, sind wir auch für ihre Stärkung. Aber heute sind sie unaufrichtig, undemokratisch, und deshalb sind sie für uns keine Partner. Das Interwiev wurde am Donnerstag geführt
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