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Frankreichs Wirtschaft: Neuer Besen–flexible Borsten

■ Linkswende ohne Dirigismus / Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Vordergrund / Ende der Privatisierungen / Binnenmarkt Europa als Wachstumsreservoir

Paris (dpa) - Nach zwei Jahren „liberalen Kreuzzugs“ droht der französischen Wirtschaft jetzt - anders als 1981 - keine „sozialistische Gegenreform“. Der neue Regierungschef Michel Rocard, schon zu Zeiten der Verstaatlichungsexperimente eher pragmatisch orientiert, propagiert die Öffnung zur liberalen Mitte. Seine Reformpolitik könnte denn auch eher an der Unrast der jetzt schon unruhigen Arbeitnehmer scheitern als am Widerstand der Unternehmen oder einer Kapitalflucht ins Ausland. Priorität hat für Rocard die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. So propagiert Rocard die 35–Stunden–Woche, um die knappe Arbeit besser auf die Erwerbsbevölkerung zu verteilen; und er strebt die Wiedereinführung der von der Rechtskoalition abgeschafften Vermögensteuer an. Mit den Mehreinnahmen soll jedem Dauerarbeitslosen, der kein Anrecht auf Sozialunterstützung mehr besitzt, ein Mindesteinkommen von 2.000 Franc (600 DM) gesichert werden. Die Besteuerung der Vermögen wird mit „sozialer Gerechtigkeit“ begründet. Sie dürfte aber auch wegen der angestrebten Steuerharmonisierung in der Europäischen Gemeinschaft unausweichlich sein. Aus dem selben Grund wird die neue Regierung die Mehrwertsteuer senken, deren Spitzensatz nach wie vor bei 33,3 Prozent liegt. Die im bürgerlichen Interregnum von 50 auf 42 Prozent gesenkte Grenzsteuer auf Unternehmenserträge wird die Regierung nicht antasten. Statt dessen schlug Mitterrand vor, neugegründete Firmen für die ersten Jahre von der Besteuerung zu befreien, um so das Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu stimulieren. Die Privatisierung der Staatsbetriebe findet mit der sozialistischen Regierung ihr Ende. Der bisherige Premierminister Jacques Chirac hatte in den vergangenen zwei Jahren 70,9 Milliarden Franc (21 Mrd. DM) aus dem Firmenverkauf eingenommen und zum Abbau der Schulden des Staates und der Staatsbetriebe genutzt. Knapp 13 Milliarden Franc werden dem Fiskus noch 1988 aus Aktienverkäufen in die Kasse fließen. Doch jetzt setzt Rocard auf den Status quo, was die Dynamik der Wirtschaft auf den für 1992 geplanten europäischen Binnenmarkt lenken soll. Denn Europa lockt: Die Industrie vom Auto– bis zum Chemiesektor erhofft sich von der Markterweiterung Kostenvorteile und Wachstum. Doch Europa lehrt auch das Fürchten. Viele mittelständische Betriebe, aber auch Versicherungen und an staatliche Hilfe gewöhnte Unternehmen fürchten, von den mächtigen Konzernen jenseits des Rheins und der Alpen erdrückt zu werden. Die „europäische Drohung“ hat bereits eine beispiellose Konzentrationswelle in der Wirtschaft eingeleitet. Dabei prallten nicht nur Kapitalinteressen aufeinander. So wehrte sich die gesamte Belegschaft des Werkmaschinenherstellers Telemecanique mit Streiks und Demonstrationen gegen einen Übernahmeversuch des Elektrokonzerns Schneider SA. Von Rocard wird nun erwartet, diesen „neuen Typus der Konfrontation von Arbeit und Kapital“ zu entschärfen. Doch auch anderswo droht soziale Unrast, etwa im Öffentlichen Dienst, wo seit 1985 kein Tarifvertrag mehr geschlossen wurde. Beim Flugmotorenhersteller SNECMA geht ein erbitterter Arbeitskampf bereits in die neunte Woche. Ebenso kompromißlos stehen sich beim Reifenhersteller Michelin Belegschaft und Management gegenüber. Auch die Mindestlohnempfänger sind unruhig. Die für Juni ins Auge gefaßte Erhöhung der Garantielöhne um 2,2 Prozent bedeutet für sie gerade einen Inflationsausgleich. Bei Renault droht ein Konflikt über die Umwandlung des Autokonzerns von einer Anstalt öffentlichen Rechts (Regie) in eine staatliche Aktiengesellschaft und den damit verbundenen Arbeitsplatzabbau. In diesem Umfeld muß die Regierung darangehen, das Haushaltsloch zu stopfen. Ihrer Vorgängerin war es gelungen, das Budgetdefizit binnen zwei Jahren bis 1988 von 145 Milliarden auf (geschätzt) 115 Milliarden Franc (34,5 Mrd DM) zu senken. Doch eine Fortsetzung der Sparpolitik würde die Erwartungen der Arbeitnehmer enttäuschen. Die Konjunktur ist den Sozialisten günstig: Die Industrieproduktion liegt nach sechs Jahren der Stagnation derzeit um fünf Prozent höher als vor einem Jahr. Auch die Binnennachfrage steigt, und die Investitionen wachsen mit einer Rate von zwei Prozent. Unheil droht nur von seiten der Handelsbilanz: Mit dem Konsumboom wuchsen auch die Importe um 13 Prozent.

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