: Dritte Welt: Statt Muttermilch tödlicher Brei
■ Auch bundesdeutsche Firmen beachten den Kodex der Weltgesundheitsorganisation zum Vertrieb von Babynahrung nicht / Erneuter Boykott gegen Nestle erwogen
Aus Genf Andreas Zumach
Die bundesdeutschen Firmen Milupa und Humana, der Schweizer Nestle–Konzern sowie weitere 17 weltweit führende Hersteller halten sich nicht an den 1981 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedeten Verhaltenskodex für den Vertrieb von industrieller Babynahrung. Die Firmen sind deshalb nach wie vor mitverantwortlich für den Tod oder die gesundheitliche Schädigung Hunderttausender Kleinkinder in Ländern der sogenannnten Dritten Welt, deren Mütter durch aggressive Werbe– und Verkaufspraktiken vom Bruststillen abgehalten und zur Verwendung industrieller Babynahrung ohne sauberes Wasser verleitet werden. Das ist das Ergebnis einer Studie, die am 6. Mai anläßlich der 41. WHO–Vollversammlung in Genf veröffentlicht wurde. Das 1979 gegründete „Internationale Babynahrung Aktionsnetzwerk“ (IBFAN) aus über hundert Organisationen in 64 Staaten sowie die „Internationale Organisation der Verbraucherverbände“ (IOCU) mit Mitgliedern in 58 Staaten untersuchten vom Juli 1986 bis April dieses Jahres die Praktiken der 20 Firmen in 42 Ländern sowie das Verhalten der 168 Staaten, die den auch von UNICEF unterstützten WHO–Kodex 1981 unterzeichnet hatten. Danach werden zwei der sechs Kodexbestimmungen von Milupa und Humana „vollständig oder ganz wesentlich mißachtet“: das Verbot direkter Werbung gegenüber Müttern und schwangeren Frauen sowie „unangemessener Werbung“ für als Muttermilchersatz in Krankenhäusern benötigte Produkte. Nur teilweise befolgen die beiden bundesdeutschen Firmen die Vorschriften zur Auszeichnung und Beschriftung ihrer Produkte sowie das Verbot der Verteilung kostenloser Proben. Milupa hält sich auch nur stellen weise an das Werbeverbot in Krankenhäusern sowie gegenüber Mitarbeitern von Gesundheitsdiensten. Die diesbezüglichen Informationen über Humana sind unvollständig. Milupa, zusammen mit Nestle, Wyeth/AHP aus USA, der britischen Boots/Farley sowie der japanischen Meiji und der koreanischen Namyang schneiden bei der Untersuchung mit Abstand am schlechtesten ab. Die meisten der 20 untersuchten Firmen gehören der „Assoziation der Babynahrungshersteller“ (IFM) an und behaupteten bisher, den Kodex vollständig einzuhalten. Auf Weltmarktführer Nestle richtet sich jedoch besondere Aufmerksamkeit. Die Firma hatte im Oktober 1984 öffentlich versprochen und vertraglich zugesagt, den Kodex strikt zu befolgen. Damit konnte ein gegen Nestle–Produkte gerichteter Verbraucherboykott in den USA beendet werden. Aufgrund der Untersu chungsergebnisse erwägen Aktionsgruppen in den USA und Großbritannien die Wiederaufnahme des Boykotts, und zwar möglichst zum vierten Jahrestag der Wohlverhaltenszusage von Nestle im Oktober dieses Jahres. Die öffentliche Auseinandersetzung um die Praktiken des Konzerns reichen zurück bis 1974, als die Aktionsgruppe „Erklärung von Bern“ eine Broschüre mit dem Titel „Nestle tötet Babies“ veröffentlichte. In dem von der Firma angestrengten Verleumdungsprozeß fand ein Berner Gericht die Sachvorwürfe der Broschüre zwar zutreffend, untersagte aber die weitere Verwendung des Titels „Nestle tötet Babies“, denn hiermit würde eine Absicht unterstellt. In der Bundesrepublik fand seit 1976 eine von Dritte–Welt– Gruppen getragene Aufklärungskampagne über die Praktiken des Nestle–Konzerns statt. IBFAN und IOCU, die der WHO bereits vor zwei Jahren eine Untersuchung mit ähnlichen Ergebnissen für den Zeitraum 1984–86 vorgelegt hatten, fordern seitdem, daß die Einhaltung des Kodex von der WHO offiziell überprüft und er notfalls verschärft wird. Dies wurde von den Industriestaaten bislang verhindert. Auch die am Freitag letzter Woche beendete diesjährige WHO–Vollversammlung verabschiedete nur eine nichtssagende Resolution. Ein schärferer Entwurf war auf Druck von Delegierten aus den USA, wo die nach Nestle drei größten Babynahrungshersteller der Welt beheimatet sind, völlig verwässert worden. Während der zweiwöchigen WHO–Tagung lädt Nestle Delegierte in die nahegelegene Firmenzentrale in Vevey zur Betriebsbesichtigung nebst Essen. Die Industriestaaten, in denen die sechs führenden Babynahrungsmittelproduzenten der Welt beheimatet sind, haben bislang auch am wenigsten getan, um die Bestimmungen des Kodex im eigenen Lande durchzuführen, wie der zweite Teil der Studie ausweist. Die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, die USA und die Schweiz führen das untere Ende einer Liste aller 168 Staaten an, die auf ihre Bestimmungen hin untersucht wurden. In den vier Ländern gilt lediglich ein von der Industrie verabschiedeter freiwilliger Kodex. Weitergehende Maßnahmen seien mit Rücksicht auf die Exportinteressen der Firmen unterblieben, erklärte ein IBFAN–Vertreter in Genf. In 24 Staaten werden einige Bestimmungen, in elf der gesamte WHO–Kodex auf freiwilliger Basis befolgt. In den sechs Dritt– Welt–Ländern Kenia, Philippinen, Guatemala, Mexiko, Peru und Sri Lanka wurde der gesamte WHO–Kodex als Gesetz verabschiedet, in 24 weiteren Staaten wurden Teilregelungen gesetzlich verankert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen