Cannes 88
: Klischees

■ Über Klischees

Wenn ein Mann aus politischen Gründen ins Gefängnis kommt, gibt es immer eine Frau, die auf ihn wartet. Wenn dieser Film in Argentinien spielt (wie Sur von Fernando E. Solanas), hat diese Frau, die durchaus ein sehr eigenwilliges Geschöpf ist, sehr lange Beine Was sich ansonsten also auszuschließen scheint, oder wie oder was.... die Layouterin . Kurz vor seiner Verschleppung macht er ihr ein Kind, das sie nun also in seiner Abwesenheit zur Welt bringen muß. Es ist ein Junge. Überhaupt werden im Kino mindestens 80 Prozent Söhne geboren. Der kleine Spion des osmanischen Reichs (Ben Kingsley in Pascals Island von James Dearden) hat auf ganzer Linie versagt. Er ist am Ende. Über dem ägäischen Meer geht die Sonne unter. Mit ihr das osmanische Reich. Auch über dem Amazonas geht die Sonne fast immer unter. Der Amazonas selbst ist ein träger, endloser Strom. Auf einem termitenzerfessenen Floß sitzt Aguirre. Schwitzt und schweigt. Fast alle seine Freunde hat er bei der Suche nach El Dorado umgebracht. Denn Gold sät Zwietracht unter den Menschen (El Dorado von Carlos Saura). Nachdem über der Poebene die Sonne untergegangen ist, (Paura e Amore), zeigt die engagierte Medizinstudentin ihren Kommilitonen einen Film über das Waldsterben. Wir sehen einen langen, dokumentarfilmhaft verwackelten Schwenk über tote Bäume. Als Filmmusik wählt Frau von Trotta ein getragenes Streichquartett. SS–Lagerkomandantinnen werden von Irm Herrmann gespielt (so in Thomas Braschs Welcome to Germany). Gelehrte des 16. Jahrhunderts tragen schlohweißes Haar und lächeln milde. Während füllige Frauen in geräumigen Küchen leise singend mit steinernen Krügen hantieren (so Gianmaria Volonte in Loeuvre au noir von Andre Delvaux). In Robert Redfords Milagro Beanfield War siegen die schwachen Guten über die bösen Starken. Das muß an sich nichts heißen. Klischees können wahr und falsch sein. Als in Bob Hoskins The Raggedy Rawney das Mädchen dem Jungen erzählt, daß sie schwanger ist, scheint der Vollmond. Und zwar völlig zurecht. Klischees gibt es schließlich auch im wirklichen Leben - die Momente, wo man denkt: „Das ist ja wie im Kino.“ Wahr sind Klischees im Kino, wenn man denkt: „Das ist ja wie im Leben“, wenn man denkt: „Das ist ja wie im Kino.“ Thierry Chervel