„Der eigentliche Skandal sind die geringen Summen“

■ Micha Brumlik, Professor für Pädagogik an der Universität Heidelberg und Mitglied der Jüdischen Gruppe, zur Affäre Nachmann und ihren Konsequenzen für das deutsch–jüdische Zusammenleben in der Bundesrepublik

taz: Besteht die Gefahr, daß es im Zuge dieses Skandals um den verstorbenen Werner NachBrumlik: Ich sehe eine solche Entwicklung bisher noch nicht. Ohnehin gehe ich davon aus, daß die einzelnen Handlungen von Juden nur sehr wenig mit dem faktisch vermuteten Antisemitismus zu tun haben. Es könnte freilich sein, daß die Ereignisse um Werner Nachmann und anderen den ewigen Antisemiten Auftrieb geben und dazu ermutigen, ihre antisemitischen Haltungen, die sie ohnehin gehegt haben, offener an den Tag zu legen. Es ist zu befürchten, daß es nicht bei einem Skandal oder bei einer Affäre Werner NachJa, also ganz offensichtlich ist auch der bisherige Generalsekretär in die Angelegenheit mit verwickelt. Galinski hat ihm offenbar bereits ein Ultimatum gestellt, sich zu diesen Dingen zu äußern und man muß sich die Frage stellen, warum eigentlich ein derart bedingungsloses Vertrauen in die beiden Zeichnungsberechtigten gesetzt worden ist. Was ist denn nun die Folge dieser Affäre auf der jüdischen Seite? Die Folge kann langfristig nur die sein, daß es zu einer gründlichen Strukturreform dieser obersten Repräsentanz der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Juden kommt und daß die üblichen Grundsätze demokratischen Verhaltens, also der Transparenz der verstärkten Kontrolle der öffentlichen Diskussion auch in dieses Gremium, das ja aus einer Gruppe älterer, seit vielen Jahren miteinander bekannter und vertrauter Männer besteht, einziehen wird. Ich glaube allerdings, daß das sehr schwer sein wird, da der Zentralrat der Juden in Deutschland nicht aus einer Urwahl hervorgeht, sondern in Form eines Delegations– und Schlüsselsystems aus den einzelnen Gemeinden und Landesverbänden gewählt wird. Bei der Bewertung der nun herausgekommenen Affäre offenbart sich eine gewisse Normalität, nämlich daß so ein Skandal auf jüdi du das auch so sehen? Ich würde das unbedingt so sehen. Wir sind in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren zunehmend Zeugen von Skandalen geworden, die sich auf dieser eigentümlichen Grenze von Politik und Wirtschaft bewegt haben. Man hat in den Affären Flick und Barschel gesehen, daß Ehrgeiz, politisches Streben und das Ergattern von Vorurteilen sowohl Angehörige der großen Wirtschaft als auch bestimmte Gruppen von Politikern sehr in Versuchung führen kann. Im Fall Werner Nachmann zeigt sich, daß es auch im Bereich des mittelständischen Unternehmens so etwas wie eine erwartbare Versuchung gibt. Der Umgang mit der Affäre Nachmann jetzt nach außen hin zeigt, daß ganz offensichtlich vom Herrn Galinski der Versuch unternomIch halte die Art und Weise, wie Hans Galinski die Affäre mittlerweile angeht, für außerordentlich vernünftig. Es scheint mir freilich, als hätten Galinski und andere ein bißchen zu lange gewartet, bis sie von sich aus die Öffentlichkeit mit diesem Skandal bekannt gemacht haben. Das heißt, du gehst davon aus, daß es im Zentralrat schon länger bekannt gewesen ist? Ja, eindeutig, und nach allem, was ich weiß, sind unterschiedliche Journalisten vor geraumer Zeit an den Zentralrat herangetreten und haben den Ernst der Lage deutlich gemacht, aber der Zentralrat der Juden in Deutschland saß, wie mir scheint, wie das Kaninchen vor der Schlange, aus Angst vor eventuellen antisemitischen Konsequenzen, unfähig, entsprechend zu handeln. Daß der Zentralrat und Hans Galinski jetzt an die Öffentlichkeit getreten sind, das war der allerletzte Termin, da ja nun Anfang dieser Woche in Karlsruhe das Konkursverfahen eröffnet wurde. Was werden die Konsequenzen sein auf der Ebene der Wiedergutmachungszahlungen? Bei all dem, was wir bis jetzt wissen, ist niemand unmittelbar geschädigt worden, da die Ansprüche, die einzelne sogenannte Härtefälle geltend machen konnten, ja alle abgegolten worden sind. Dabei kann überhaupt kein Zweifel bestehen, daß der eigentliche Skandal in diesen unglaublich geringen Summen besteht, die die einzelnen Härtefälle erhalten haben. Maximal 5.000 Mark für entsetzlich erlittene Unbill. Der wahre moralische Skandal besteht, so paradox das in diesem Augenblick scheinen mag, nach wie vor darin, daß letzten Endes Menschen, die Unendliches erduldet haben, seitens der Bundesregierung mit einem Bettel abgefunden worden sind. Das vermindert in keiner Weise die vermutlich persönliche Schuld von Werner Nachmann und anderen, aber man muß natürlich Hans Galinksi völlig recht geben, wenn er sagt, daß er sich bei jedem, der angesichts dieses Skandals die Legitimität der Reparationszahlungen in Frage stellt, fragen müßte, wes Geistes Kind er ist. Mit anderen Worten: Wer eine solche Infragestellung von Reparationszahlungen jetzt betreibt, dem kann man nichts anderes unterstellen als antisemitische Motive. Ist es ein Zufall der Geschichte, daß ausgerechnet Werner Nachmann, Geld hinterzoIch halte das für überhaupt keinen Zufall. Es kann ja überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß seit Adenauer konservative Bundesregierungen daran interessiert gewesen sind, die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Juden gleichsam als Aushängeschild dafür zu verwenden, daß die Bundesrepublik Deutschland in den Kreis der demokratischen Völker des Westens zurückgekehrt ist. Mir scheint, daß es hier einen merkwürdigen Prozeß wechselseitiger Instrumentalisierungen gegeben hat, deutlicher noch: Ich glaube, daß in gewisser Weise die offiziellen bundesrepublikanischen Stellen sich genau den Typ jüdischer Repräsentanten herangezogen haben, die einerseits als Aushängeschild nach außen dienen konnten, auf der anderen Seite aber nicht durch unbequeme Anfragen die bundesrepublikanische Legitimation in Frage gestellt hätte. Sein ganzes Gebahren war das eines mittelständischen Unternehmers, der in allen seinen Erklärungen spät darauf gedrungen hat, daß es möglich sei, als Jude in Deutschland normal zu leben. Nun wissend, daß diese Bedingungen, mit denen diese Normalität angestrebt wird, natürlich gestört sind. Interview: Klaus Hillenbrand