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Gegen die Regie der Bürokraten

Ein ordensbehängter Torso ziert das Plakat in den Moskau News, ohne Kopf und ohne Hände. Dargestellt hat der Künstler A. Faldin „den Perestroika–Gegner“. Doch wer ist eigentlich gegen die Perestroika? Der Wirtschaftswissenschaftler G.Ch. Popow beschreibt in der Aprilausgabe der Zeitschrft Ogonjok (“Das Feuerchen“): „Heute sind - wenigstens den Worten nach - alle für (die Perstroika). Wie soll man bestimmen, wer wirklich dafür und wer dagegen ist? Nach den Reden und Erklärungen? Zudem sind die Gegner der Perestroika organisatorisch nicht zerschlagen, der Apparat ist von ihnen noch nicht gesäubert.“ Um damit anzufangen, empfiehlt Popow, den gesamten Parteiapparat künftig auf Zeit zu wählen: von der Basis her und mit jeweils mehreren Kandidaten. Von der Parteikonferenz im Juni erwartet er außerdem, daß Vorschläge für ein Referendum über demokratische Wahlen in allen Bereichen des Staates und der Wirtschaft ausgearbeitet werden. Einen ersten persönlichen Erfolg konnte Professor Popow schon verbuchen: An der Moskauer Staatlichen Universität waren ursprünglich nur der Universitätsrektor und der lokale Parteichef bei den Delegiertenwahlen zur Parteikonferenz aufgestellt. Studenten forderten dann die Kandidatur Popows, es kam zu tumultartigen Protesten. Schließlich setzten sie eine geheime Wahl durch, bei der Gorbatschow–Anhänger Popow nicht weniger als 90 Prozent der Stimmen erhielt. Daß die Demokratisierung noch längst nicht überall soweit ist, zeigt das Beispiel der sibirischen Stadt Omsk: Dort ließen die Parteifunktionäre gar nicht erst eine Diskussion über ihre Kandidatenliste zu. Überhaupt ist im Westen wenig über den Hergang der Delegiertenwahlen bekannt, wenig auch über die bisherigen Teilergebnisse. Gewiß sind es nicht alle und auch nicht ausschließlich Parteibürokraten, denen Böses schwant, wenn der Wahlmodus geändert werden soll oder wenn es um Gorbatschows Wirtschaftsreform geht. Doch da die empirische Soziologie in der Sowjetunion lange vernachlässigt wurde, ist über die Meinungsbildung in den Reihen der Wirtschaftsfunktionäre wie der einfachen Arbeiter wenig bekannt. So muß statt dessen eine Soziologie der Leserbriefe her. Ob in Prawda, Iwjestija oder Ogonjok - der Unmut gegen die „Regie der Bürokraten“ ist stets ein beliebtes Leserthema. Der Unmut richtet sich nicht nur gegen undurchsichtige Wahlen - auch gegen die soziale Zusammensetzung und die Arbeit der Sowjets oder gegen die Ämterhäufung vieler Delegierter, die meist auch sonst an prominenter Stelle tätig sind. Die Zeitungsleser wollen, daß die gewählten Gremien ständig (statt bisher nur gelegentlich) tagen, daß ihre Amtszeiten strikt begrenzt werden. Dafür sollen sie aber auch bezahlt bzw. von ihrer sonstigen Arbeit freigestellt werden, damit auch einfache BürgerInnen Wahlämter ausüben können. Doch man fixiert sich in den Zeitungsspalten nicht allein auf parlamentarische Regeln. Neue Gremien wie die „Konfliktkommission“ des Verbandes der Filmschaffenden sind in der letzten Zeit oft genug dann legalisiert worden, wenn Medien und Öffentlichkeit den Erfolg ihrer Arbeit nach einiger Zeit anerkannt hatten. Noch müssen die Journalisten die Rechtsunsicherheit fürchten: Kritische Berichte können nach den alten Gesetzen verfolgt werden. Zwar hat schon im vorigen Jahr der Journalistenverband ein neues Presserecht gefordert, doch durchsetzen konnte er sich bisher nicht. Nicht wenige Leserbriefschreiber drängen auf ein neues sozialistisches Gesetzessystem, das auch die Unabhängigkeit der Richter garantiert. Einzelne Stimmen gibt es schon, die nicht mehr tolerieren wollen, daß Armee und Strafvollzug völlig frei von öffentlicher Kontrolle sind. Ein ähnliches Tabu ist bislang das strikte Zuzugsverbot gewesen, das für die sowjetischen Großstädte gilt. Heute wird offen darüber geredet, daß es dadurch auch Stadtbewohnern praktisch unmöglich gemacht wird, einen zeitweiligen Job woanders anzutreten. Denn wer einmal seinen privilegierten Wohnort verläßt, muß befürchten, diesen gleich auf Lebenszeit zu verlieren. Noch vor drei Jahren wäre eine öffentliche Diskussion hierüber kaum möglich gewesen. Schritt für Schritt macht die Partei Anstalten, sich aus zahlreichen Kommandopositionen in Staat und Wirtschaft zurückzuziehen. „Die Demontage des Stalinschen Modells für die Lenkung des Staates“ hat dies ein Kommentator der Moskau News genannt. Angesichts dieser rapiden Entwicklung nimmt es kaum wunder, daß viele Briefeschreiber und Kolumnisten sich mittlerweile den Kopf auch darüber zerbrechen, wie der Funktionsverlust wettzumachen sei. Da ist die Rede von einer „Stärkung von Kraft und Autorität der Partei“. Von ihr erwarten sich viele Leser stärkere moralische Leitbilder. Da wird zum Beispiel gefordert, ein Straftäter solle härter bestraft werden, wenn er der Partei angehöre. Doch die größten Hoffnungen wie Befürchtungen richten sich auf den Umgang der Partei mit der eigenen Geschichte. Die Zahl der Leserbriefe nimmt zu, die von der Parteikonferenz eine noch weitergehende Abrechnung mit der Vergangenheit erhoffen, als Gorbatschow sie bereits vollzogen hat. So schreibt der Schriftsteller Alexander Borschtschagowskij in der letzten Nummer der Moskau News: „Sozialismus und Stalinismus sind zwei unvereinbare Begriffe und Größenordnungen.“ Die „Idee des Sozialismus, des Traumes der Menschheit von sozialer Gerechtigkeit“ will er damit retten, retten will er „die Leistungsfähigkeit einer - wenn auch gedemütigten, ja teilweise durch die autoritäre Macht ausgebluteten - kollektivisten Ordnung“. Doch selbst mehr Partizipation für die Basis heißt noch nicht, daß die Werktätigen von heute auch die wirtschaftlichen Opfer zu bringen bereit sind, die diese „Leistungsfähigkeit“ erfordert. Barbara Kerneck

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