: Azubis in den 80ern: Lehrjahre sind wieder Wanderjahre
■ Das Projekt Ausbildung und Wohnen in München vermittelt Jugendliche aus Problemregionen zur Ausbildung an die Isar / Unkonventionelle Arbeitsamtmethoden schaffen Distanz zwischen He
Azubis in den 80ern: Lehrjahre sind wieder Wanderjahre
Das Projekt „Ausbildung und Wohnen in München“ vermittelt
Jugendliche aus Problemregionen zur Ausbildung an die Isar / Unkonventionelle Arbeitsamtmethoden schaffen Distanz
zwischen Heimatorten und Lehrstellen / Münchener Beispiel
fand noch keine Nachahmer / Erfahrungen mit der Früh
-Mobilität
Von R. Köpke und V. Wallmüller
„Klar bleibe ich nach meiner Ausbildung weiter in München. Alleine schon wegen der größeren Fortbildungsmöglichkeiten in meinem Beruf.“ Ihrer Heimatstadt Warburg (etwa 40 Kilometer östlich von Paderborn) wird die 21jährige Friseuse Melanie Pöttner damit im kommenden Oktober endgültig den Rücken kehren. Dieser „Abnabelungsprozeß“ hatte bereits bei ihrer Job-Suche begonnen. Trotz zahlloser Bewerbungsschreiben bekam Melanie (Berufswunsch: Schreinerin) weder in der ostwestfälischen Kleinstadt noch in deren Umgebung einen Ausbildungsplatz. Deshalb nutzte sie ein Angebot des Arbeitsamtes, eine Lehre in München zu beginnen.
Persönliche Kontakte zwischen Berufsberatern der Arbeitsämter in Paderborn und München hatten 1985 den Weg für eine bis dahin neue Variante in Sachen Lehrstellensuche geebnet. Das Zauberwort dabei hieß „Ausgleichsvermittlung“. Während in der Isarmetropole 1986/87 fast die Hälfte der Lehrstellen unbesetzt blieb, saßen in Paderborn die ausbildungswilligen Jugendlichen quasi auf der Straße. Münchner Handwerksbetriebe, Banken und Zahnärzte suchen auch heute händeringend nach Auszubildenden. Was lag also näher, als den jungen Arbeitslosen aus Ostwestfalen im Süden der Republik einen Job zu verschaffen?
Mit den „Nixdorf-Airlines“ (der Computer-Riese hat in Paderborn sein Stammhaus) flogen die ersten Bewerber auf Behördenkosten nach München. Die Anreise lohnte sich für fast alle: „Die haben mich angeguckt, als ob ich ihnen Märchen erzähle“, erinnert sich Herbert Reimann, Leiter der Abteilung Berufsberatung beim Arbeitsamt München. Er konnte jedem Jugendlichen gleich mehrere Adressen mit potentiellen Ausbildungsstellen in die Hand drücken. Diese Aktion war gleichzeitig die Geburtsstunde des Projektes „Ausbildung und Wohnen“. Denn schnell bekamen die Münchner Berufsberater zu spüren, daß es mit der Lehrstellenvermittlung für ihre „preußischen Schützlinge“ allein nicht getan war. Unversehens waren die Jobvermittler auch als Ansprechpartner bei Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und selbst bei privaten Problemen wie Heimweh und Zimmersuche gefordert.
Um diese „besonderen Anpassungsschwierigkeiten“, so Arbeitsamtsdirektor Rademacher, bei späteren Vermittlungsaktionen zu mildern, entschloß er sich, neue Wege zu gehen. In Zusammenarbeit mit den Trägern von Jugendwohnheimen (zumeist katholischen Einrichtungen) entstand das Projekt „Ausbildung und Wohnen“. Sozialarbeiter sollten den auswärtigen Jugendlichen helfen, sich leichter in die neue Umgebung einzuleben. Mehr als 500 Azubis, die aus Papenburg, Leer, Bremen oder aus dem Ruhrgebiet in die bayerische Landeshauptstadt kamen, haben mittlerweile die Freizeitangebote wie Stammtisch, Skiwochenende und Tischtennis-Turniere genutzt, die Unterstützung bei der Wohnungssuche und die Hilfe bei Behördengängen in Anspruch genommen.
Für die „erste Generation“ endet in diesem Sommer die Lehrzeit. „Was die Jugendlichen danach machen, ob sie wieder in ihre Heimatstädte zurückgehen, wissen wir nicht“, sagt Karin Ziemann, eine der Betreuerinnen des Projektes. „Es gibt keine Statistik, keine erkennbare Tendenz.“ Jeder einzelne habe ganz persönliche Gründe fürs Bleiben oder Gehen.
Für die Zahnarzthelferin Sigrid Jochheim steht fest, daß sie im Juli München verlassen wird. Die 22jährige hat mit der „Weltstadt mit Herz“ abgeschlossen. Ihre Bilanz ist alles andere als schmeichelhaft: „Ausbildung, Essen und Schlafen - mehr war das hier nicht.“ Es sei nicht allein ihr Freund, der sie zur Rückkehr nach Paderborn bewogen habe, betont Sigrid mehrmals. „So richtig eingelebt habe ich mich in München nie.“ Deshalb nimmt sie auch die Lohneinbuße von rund 200 Mark, die mit dem erneuten Ortswechsel verbunden ist, ziemlich gelassen hin.
Eigentlich wollte Ralf Nitsch Büro- oder Großhandelskaufmann werden, als er vor drei Jahren nach München kam. Allerdings gab es selbst in der bayerischen Millionenstadt für diese Berufe mehr Bewerber als Lehrstellen. So entschloß sich Ralf, eine zweijährige Ausbildung zum Handelspacker zu beginnen. Ihm gefällt es in München. Daß der vielgelobte Freizeitwert in Oberbayern auch seinen Preis hat, spürt der 24jährige Paderborner immer am Monatsende. Auch wenn er demnächst ein Gesellengehalt von 1.400 Mark überwiesen bekommt, kann er damit keine große Sprünge machen. Noch bezahlt das Arbeitsamt mit Hilfe der „Berufs-Ausbildungs-Beihilfe“ die Miete, doch nur bis zum Abschluß der Lehrzeit. Da die Mietpreise in München bundesweit an der Spitze liegen, macht Ralf sein Bleiben von einer baldigen Lohnerhöhung abhängig. „Sonst mache ich etwas anderes, egal was.“
Martina Hardes Herz schlägt zwar weiter für das Sauerland, wo sie geboren ist, ihre Zukunft sieht sie aber in München. In Fürstenfeldbruck, westlich der Landeshauptstadt, hat sie ihre Lehre als Gärtnerin beendet. „Es hat lange genug gedauert, bis ich Leute kennengelernt habe. Jetzt wieder wegfahren, ich weiß nicht.“ Im nächsten Jahr will Martina auf die Fachoberschule für Gestaltung und Kunst gehen, denn: „Ich will etwas mit meinen Händen machen.“
Es bleibt die Frage, ob das Geld für die „Verschickungsaktionen“ nicht sinnvoller anzulegen ist. Berufsberater Herbert Reimann vom Münchner Arbeitsamt hat sie nicht zum ersten Mal gehört: „Das können wir nicht beantworten. Die Lösung, dort Lehrstellen zu schaffen, wo sie gebraucht werden, ist nicht immer so einfach.“ Bedenken meldet Reimann bei den Forderungen einiger Politiker an, die mehr Mobilität von arbeitslosen Jugendlichen verlangen: „Es geht einfach nicht an, von Heranwachsenden die gleiche Beweglichkeit wie von einem Erwachsenen zu erwarten.“
In der Bundesrepublik gibt es erstmals seit Jahren wieder mehr Lehrstellen als Bewerber, heißt es im Ausbildungsbericht der Bundesregierung, der im Frühjahr veröffentlicht wurde. Doch das gilt nicht für alle Regionen und schon gar nicht für alle Berufe. Das Projekt „Ausbildung und Wohnen in München“ wird es auch in Zukunft geben. Ob Melanie Pöttner, die ab Oktober in München als Jungfriseuse arbeiten wird, jugendlichen Arbeitslosen empfehlen kann, ihrem Beispiel zu folgen? „Na klar, besser in München eine Ausbildung beginnen als dumm rumsitzen. Denn vom Rumsitzen passiert überhaupt nichts.“
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