: Euro '88 im "Locus"
■ Kreuzberger Szene-Kneipe rief, und alle kamen zum TV-Fußbal / SAT1 wollte versteckte Kamera aufstellen - Wirtskollektiv lehnte ab / Erleichterung nach dem Ausgleich durch Brehme
Euro '88 im „Locus“
Kreuzberger Szene-Kneipe rief, und alle kamen zum TV-Fußbal / SAT1 wollte versteckte Kamera aufstellen - Wirtskollektiv lehnte ab / Erleichterung nach dem Ausgleich durch Brehme
Die Besitzer der Kreuzberger Kiezkneipe „Locus“ irrten sich gewaltig. Unter dem Motto „Fast live dabei“ hatten sie zum Eröffnungsspiel der Europameisterschaft in ihren Laden gebeten.
Aber von wegen „fast live“ - hautnaher, gequetschter als auf den Tribünenplätzen im „Locus“ am Freitag abend geht's nicht mehr. Vielleicht 200 Fußballfans drängen sich in dem kleinen Raum, am hinteren Ende hocken die Leute auf zusammengeschobenen Tischen. Viele stehen, die Kellnerin hat größte Schwierigkeiten, die Getränke heil bei den Gästen abzuliefern. „Vor ein paar Wochen hatten wir die Idee, für 50 Mark täglich während der EM-Tage einen Großbildfernseher zu mieten. Mit so einem Massenansturm haben wir nicht im Traum gerechnet. Aber wir verkaufen so viel Bier wie nie zuvor“, erzählt Wolfgang, einer der vier Besitzer.
Beim Aufmarsch der Nationalelf und auch beim Abspielen der Nationalhymne herrscht ein lethargisches Desinteresse. Die meisten sind damit beschäftigt, sich die Sicht nach vorn freizukämpfen oder das nächste Bier zu bestellen. Nur vereinzelte „Rudi„-Rufe werden in die Runde geworfen. Auch Kohls Auftritt bringt niemanden in revolutionäre Rage. Erst als der Schirie im Verlauf der ersten Halbzeit angeschossen wird, brandet der erste hörbare Applaus auf. Auch die schauspielerische Extra-Einlage von Thon, der unberührt unter großem Hallo ein Foul inszeniert, findet die Anerkennung der Zuschauer. Zwischenzeitliche Anfeuerungsrufe für die Deutschen werden noch mit selbstironischem Lächeln oder Kopfschütteln relativiert.
Erst nach dem 1:0 durch Italien ist die Distanz dahin. „Typischer Herget-Fehler“, ruft einer und gibt zum ersten Mal sein heimliches Fußballverständnis preis. Vier Sparkassenangestellte aus dem Ruhrgebiet, die an einem Marathonlauf in Berlin teilgenommen haben, sind jetzt in der spielentscheidenden Phase weniger zimperlich: „Der (Beckenbauer, Anm. d. Red.) soll den blöden Herget rausnehmen und endlich Wuttke bringen.“ Dann der alles entscheidende Freistoß. Anweisungen werden in den Fernseher von allen Seiten geschrien: „Das sind doch nie neun Meter! Zurück!“ Dann der Brehme-Schuß - Tooooor! Da gibt es kein Halten mehr. Die deutsche Nationalelf schießt den Ausgleich, und fast alles jubelt. Nur die kleine italienische Fraktion kann nicht richtig mitgehen. Jemand erinnert sich: „Ich weiß noch, als die Italiener Weltmeister wurden, wollte ich ne Pizza essen gehen. Der Kellner damals zu mir: 'Nur wenn sie Kleingeld haben.‘ Das hab ich dem nie verziehen.“
Vielleicht hatten die „Locus„-Besitzer diese kollektive Begeisterung für die Deutschen schon vorausgesehen und deshalb einem SAT1-Team keine Drehgenehmigung erteilt. „Die wollten hier mit versteckter Kamera filmen, aber darauf hatten wir schon überhaupt keinen Bock, und außerdem wollten wir unter uns bleiben“, erzählt Katharina von der Kneipen -Crew. „Die wollten auch ein paar Prominente hier einschleusen und gucken, wie die Szene darauf reagiert. Und das alles wollte uns dieser SAT-Mensch als Reklame für den Laden verkaufen.“
In den letzten Minuten der Begegnung widmen sich die meisten dann wieder eher ihren Getränken, weil am Bildschirm nicht mehr all zuviel passiert. „Na ja, muß man ja auch verstehen, daß sie jetzt kein Gegentor mehr einfangen wollen“, kommentiert einer die Spieltaktik. Am Schluß stürmt alles ins Freie, und da sind doch tatsächlich welche, die das Spiel nicht sehen wollten. Komisch.Joop Springer
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