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Das Aids-Marathon von Stockholm

■ Einer der größten Kongresse in der Medizin-Geschichte sucht nach Lösungen im Kampf gegen das Virus / Aids wird alle Gesellschaften dieser Erde verändern / Neuntes Gen des HIV entdeckt

Das Aids-Marathon von Stockholm

Einer der größten Kongresse in der Medizin-Geschichte sucht nach Lösungen im Kampf gegen das Virus /

„Aids wird alle Gesellschaften dieser Erde verändern“ /

Neuntes Gen des HIV entdeckt

Aus Stockholm Rudolf Käutner

„Warten Sie bis Stockholm“, vertröstete Luc Montagnier, Entdecker der Aids-Erreger HIV 1 und 2, seit Wochen Kollegen und Journalisten mit der Verheißung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse auf der „Vierten Internationalen Aids-Konferenz“. In der Vorbereitung auf einen effektvollen Auftritt stand der Großmeister der Virologie nicht allein. In Forschungsinstituten, Kliniken und sozialwissenschaftlichen Projekten, in Paris, Washington, Kinshasa oder Berin wurde an Vorträgen gefeilt, wurden Dias sortiert und Poster gestaltet. Das Ensemble dieser ungezählten Arbeitsstunden kulminiert in dieser Woche im größten medizinischen Kongreß in der Geschichte der spektakulärsten Krankheit unserer Zeit, die, so Sandra Wallmann, Anthropologin aus London in einer vielbeachteten Rede, „Sex und Tod“ miteinander verbindet und deshalb alle Gesellschaften verändern wird.

7.000 Teilnehmer, 3.000 Vorträge, 6.000 Posterpräsentationen. Ein viertägiges Marathon durch Molekularbiologie und Virologie, Neurologie, Dermatologie, Gynäkologie. Aids läßt kaum eine medizinische Fachrichtung unberührt. Epidemiologische Studien, Drogen- und Prostitutionsprobleme und die medizinische Versorgungssituation in Ländern der Dritten Welt, in einen Zeitraffer gepreßt durch eine hervorragende, doch unerbittliche Kongreßorganisation.

Wer hier einen der begehrten „talks“, so der Fachjargon für die Vorträge im 10-Minuten-Takt, halten darf, muß schon etwas vorzuweisen haben. „New Dates“ sind gefragt in dieser innovativen Sparte der High-Tech-Medizin. Tatsächlich werden zwischen Begrüßungsansprachen, Kongreßspektakel, Tourismuswerbung für folgende Aids-Kongresse in Montreal und Mexiko, Geschäftigkeit und Flüchtigkeit wirkliche Highlights der Genetik präsentiert. Zum Beispiel die Entdeckung eines neuen, des jetzt neunten bekannten Gens des Aids-Virus HIV 1 in drei Laboratorien gleichzeitig, das endlich die Frage beantwortet, warum der Erreger solange im Körper schlummern kann, bis die Krankheit ausbricht. „In einem komplizierten Netzwerk regeln die einzelnen Gene in ständiger Interaktion die Virusvermehrung“ erklärt William A. Haseltine vom Havard Dan-Faber Cancer Institut in Boston, USA, dessen Labor an der Entdeckung beteiligt war, „und dieses Gen ist für die Verzögerung der Erkrankung verantwortlich.“ Ein neuer Ansatzpunkt für Impfstoff und Therapie. Und so ist der Aids -Kongreß in Stockholm mehr als eine Leistungsschau hilfloser Wissenschaft. „Wir haben keinen Impfstoff, wir haben keine neue Therapie“, schließt Elisabeth Ngugi von der Universität in Nairobi ihren Vortrag über die Erfolge der Aufklärungskampagne bei Prostituierten in Kenia, „aber wir haben Möglichkeiten, die Infektionsketten zu durchbrechen. Aufklärung ist das Schwert im Kreuzzug gegen Aids. Und die Frauen werden ihn führen.“

Die sozialen und humanitären Aspekte der Krankheit bilden den eigentlich wichtigsten Schwerpunkt des Kongresses. „Während aus dem Nebensaal Applaus für irgendwelche molekularbiologischen Neuigkeiten herübertönt, möchte man hier am liebsten heulen,“ sagt eine norwegische Ärztin, bei der sich tiefe Betroffenheit bereits bei der Dokumentation nüchterner Zahlen über die Ausbreitung der Infektion in Afrika einstellt. Über die Probleme der armen Länder mit dieser neuen Infektionskrankheit offenbart sich nach dem Leiden der Opfer das zweite, das sozioökonomische Schreckensgesicht von Aids.

„Don't forget your books“. Ich weiß nicht, wie oft ich die enggedruckten beiden Kursbücher durch das Programmangebot des Kongresses von Format und Gewicht eines Versandhauskatalogs beinahe liegengelassen hätte. Als wollte sich ein geistiger Überlebenstrieb des intellektuellen Schwergewichts dieser blauen Bände entledigen.

Zuviel Wichtiges wird man wieder versäumen. Fast tausend Mark kostet zuletzt die Teilnehmergebühr. Da ist die Nylontasche, notwendig für den Büchertransport, der die Kongreßteilnehmer in der ganzen Stadt erkennbar macht, und eine Einladung des Bürgermeisters von Stockholm zum kalten Buffet in den Garten des historischen Rathauses schon mit drin.

„Was wir hier präsentiert haben“, sagt der US-Forscher Haseltine, ist die vierjährige Arbeit aller Laboratorien der Welt. Und auch Robert Gallo sieht im Fortschritt seiner Wissenschaft schon lange nicht mehr die Leistung einzelner. „Deshalb sollte auch ein Impfstoff, wenn er einmal gefunden wird, niemals nach einer Person benannt werden“, fordert Gallo, dessen eigener Name seit Jahren mit der Aids -Forschung in einem Atemzug genannt wird. „Erist das Ergebnis der Arbeit tausender von Frau- und Mannstunden.“

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