: Was bewegt die Frauen in Ungarn?
Nachdem die staatlich subventionierten Dienstleistungen gestrichen wurden, um den ungarischen Schuldenberg abzutragen, machen Frauen wieder mehr Haus- und Kinderarbeit / Deshalb verdienen sie weniger und steigen nicht auf / Keine Zeit für (Frauen-)politik? ■ Von Christine Biesinger
Ungläubiges Staunen: „Sie interessieren sich für die Frauen in Ungarn? Nur für die Frauen?“ Ich nicke und fange an zu erklären... Man interessiert sich für die ungarische Wirtschaft, Planwirtschaft und Markt, joint ventures..., aber kaum jemand im Westen weiß um den Alltag der Frauen dort.
Rosza Kulcsar im statistischen Landesamt hat die entsprechenden Zahlen zur Hand: Nahezu 82 Prozent der Frauen im erwerbsfähigen Alter sind berufstätig (zum Vergleich: bei uns sind es 38 Prozent), ihre Löhne sind im Schnitt 20 bis 30 Prozent niedriger als die vergleichbaren Männnerlöhne und sie müssen arbeiten, lohnabhängig arbeiten, da es zweier Einkommen bedarf, um eine Familie zu ernähren.
Offiziell geht die ungarische Regierung davon aus, daß für gleiche Arbeit gleicher Lohn bezahlt wird. „Doch“, sagt Katalin Molnar, die in der Schulaufsichtsbehörde arbeitet, „Frauen arbeiten ja nicht soviel wie die Männer, sie nehmen keine Arbeit am Wochenende mit nach Hause, machen weniger Überstunden und fehlen ab und zu, wenn die Kinder krank sind, da ist es ganz richtig, wenn die Männer auch mehr verdienen.“ Diese Faktoren bestimmen nicht nur die Individuallöhne, die über einen sehr niedrigen Kollektivlohn errechnet werden, sondern bestimmen auch, wer aufsteigt, wer ins Ausland fährt und sonstige Vorteile genießt. Folgerichtig sind nur sehr wenige Frauen im Management oder in den oberen Ebenen der Verwaltung.
Eine, die es geschafft hat, ist Judit Bereczki. Sie leitet eine Fabrik in Budapest und erzählt mir, daß sie drei Jahre gekämpft hat, bis die Belegschaft ihres Betriebes sie anerkannte. „Sie wollten einen Mann und keine Frau als Direktorin. Der Direktor war schon immer ein Mann gewesen. Aber ich habe es ihnen gezeigt, und heute lieben sie mich. Zu meinem Geburtstag schenken sie mir - egal wo ich gerade bin - einen Blumenstrauß, mit einer Blume von jeder Mitarbeiterin.“ Sie macht eine Pause. „Aber ohne meine Mutter hätte ich das nicht geschafft, die hat mir die Kinder abgenommen und mich auch im Haushalt sehr unterstützt.“
Zsuzsa Orolin ist Soziologin und erzählt von einer Studie, in der sie die Situation junger Familien untersucht hat und feststellte, daß die Belastungen vor allem in den ersten Jahren sehr hoch sind. Weil die meisten Wohnungen Privateigentum sind, müssen junge Familien, wenn sie nicht bei den Eltern leben wollen - was sehr oft bis zum zweiten Kind der Fall ist -, eine Wohnung kaufen. Von der Kaufsumme wird ihnen pro Kind ein bestimmmter Betrag erlassen, so daß Zsuzsa Orolin zu dem Schluß kommt: „Sie bezahlen mit ihren Kindern.“ 600 Väter im Erziehungsurlaub
Katalin Ivanyi arbeitet freiberuflich als Dolmetscherin, weil sie so das Dreifache im Vergleich zu einer Festangestellten verdient. „Nun bin ich schwanger“, sagt sie, „und alle Leistungen, die der Staat schwangeren Frauen und jungen Müttern bezahlt, sind an den Arbeitsplatz gebunden. Wir wollen versuchen, daß mein Mann das Erziehungsgeld in Anspruch nehmen kann, aber Männer können das erst nach dem ersten Lebensjahr des Kindes, vorher steht es nur Frauen zu. Auch eine größere Wohnung brauchen wir. Ich weiß noch nicht einmal, wo ich das Bettchen hinstellen soll.“
In Ungarn steht den Frauen ein Mutterschaftsurlaub von 24 Wochen zu (vier Wochen vor der Geburt des Kindes und 20 Wochen danach). In dieser Zeit haben sie Anspruch auf ihren vollen Verdienst und ihr Arbeitsplatz ist gesichert. Seit 1985 gibt es auch in Ungarn eine Art Erziehungsurlaub, der nach der 20. Woche in Anspruch genommen werden kann und inzwischen bis zum dritten Lebensjahr des Kindes gewährt wird. Dabei werden rund 70 Prozent des Lohnes ausbezahlt. 1986 haben 224.000 Eltern diesen Erziehungsurlaub in Anspruch genommen: 223.400 Müter und 600 Väter.
Eva Vas, die als Mitarbeiterin beim Kommunistischen Jugendverband arbeitet, erwartet in wenigen Wochen ihr erstes Kind und überlegt sich schon heute, wie lange sie bei ihrem Kind bleiben will: „Wenn ich nach drei Jahren wiederkomme, dann wird mir diese Zeit bei allen Fragen, die eine Lohnerhöhung oder eine Karriere betreffen, als 'fehlend‘ angerechnet.“ Aber Kinderkrippen sind in Ungarn umstritten und wie die Kindergärten räumlich und personell schlecht ausgestattet.
„Es war schon einmal besser in den siebziger Jahren, aber inzwischen ist ein Rückschritt zu beobachten“, meint dazu Laszlo Monar, Professor an der Semmelweis-Universität. „Viele Männer sind gegen die Emanzipation der Frauen, weil die Probleme damit größer werden, sie kommen damit einfach nicht mehr klar.“ Seine Mitarbeiterin, Judit Vanyai, widerspricht. „Es sind doch wirklich die Frauen, die die Last tragen müssen, da die privaten Haushalte verstärkt Leistungen erbringen müssen, die früher außerhalb des Hauses erledigt wurden. Die Wäsche zum Beispiel konnte ich früher aus dem Haus geben. Sie wurde in staatlich subventionierten Wäschereien gewaschen und gebügelt. Jetzt werden die Subventionen gestrichen, und wer kann sich das dann noch leisten?“
Auch Katalin Ivanyi hatte das schon erwähnt und mir geschildert, wie ihre (Neubau-)Wohnung aussieht. „Du mußt wissen, daß in den siebziger Jahren alle Neubauwohnungen mit sehr kleinen Küchen gebaut wurden, weil ja der größte Teil der Hausarbeit auch von Dienstleistungszentren übernommen werden sollte und auch wurde. Viele Familien haben jetzt keine Waschmaschine und auch überhaupt keinen Platz, um eine aufzustellen. Auch die Zuschüsse für Kantinen und Mensen werden gekürzt. Viele Frauen werden wieder selber kochen und wieder mehr einkaufen und wieder mehr abwaschen..., und das in Küchen, die dafür eigentlich gar nicht gedacht waren.“ Die Frauen sind
an allem schuld
„Wir haben das alles nicht gelernt“, schließt Lilla Koncz, die mir die Probleme der ungarischen Gewerkschaften geschildert hatte, den 'privaten Teil‘ ihrer Ausführungen. „Wie wird man nur all diesen Anforderungen gerecht? Ein Acht -Stunden-Tag, dazu An- und Abfahrt und das Kind abholen, so werden es gut zehn Stunden; das Kind braucht Zuwendung, ich bin kaputt, muß noch die Hausarbeit machen, mein Mann hat auch keine Zeit.“ - „Und es ist ja nicht nur die Arbeit“, fährt sie fort, „es sind immer die Frauen, die an allem schuld sind: an den hohen Scheidungsraten, an der hohen Alkoholismusrate, an den schwierigen Kindern, wir sollen unsere Eltern pflegen und, und... Dann sollen wir noch politisch aktiv werden - es ist einfach zuviel.“
Dieses „es ist einfach zuviel“ hatte schon meine erste Gesprächspartnerin, Roszsa Kulcsar, immer wieder gesagt. „Schauen Sie sich doch die Leute an, sie haben resigniert. Sie sind kaputt. Viele arbeiten zwölf bis 16 Stunden am Tag.“ Dann erzählt sie mir vom sogenannten ungarischen „Dreischichtsystem“: Als erste Schicht wird die normale Arbeit bezeichnet. Sie umfaßt 42 Stunden in der Woche, und der durchschnittliche Verdienst hierfür beträgt rund 5.000 Forint. In der zweiten Schicht - sie wird nachmittags oder abends in unterschiedlichster Form geleistet - arbeiten die Männer zusätzlich vier bis sechs Stunden (Taxifahren, Schwarzarbeit, freiwillige Schichten im Betrieb usw.), um nur so „von Tag zu Tag zu kommen“, wie mir sehr viele Gesprächspartnerinnen bestätigen. „Das Geld reicht einfach nicht. Vielleicht will man den Kindern ja auch mal was Besonderes kaufen.“ Und die 'dritte‘ Schicht legen alle am Wochenende ein, die Frauen im Haushalt und die Männer arbeiten außerhalb, um auch mal etwas Geld zur Seite legen zu können.
Eine andere Frau, die auch 'nur‘ arbeitet, lerne ich im Institut für Arbeitswesen kennen. Maria Lado lebt bei ihren Eltern, denn von ihrem Einkommen kann sie sich ohne eigene Familie keine Wohnung leisten. „Ich arbeite eigentlich immer“, sagt sie. „Am Wochenende meint mein Chef: 'Ach, machen Sie noch diese Studie, Sie haben doch keine Familie!‘ Oder oft auch abends. Freundinnen und Freunde habe ich fast keine, ich hätte gar keine Zeit. Neulich bei einer Tagung haben alle Frauen aus den westlichen Ländern von ihren Hobbies erzählt. Wir aus den sozialistischen Ländern hatten alle keine Hobbies. Wir haben keine freie Zeit für uns.“
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Ungarn hat eine der höchsten Alkoholismusraten der Welt, die höchste Selbstmordrate und weltweit die höchste Sterberate bei Männern zwischen 35 und 49 Jahren. Und während in fast allen westlichen Ländern die durchschnittliche Lebenserwartung steigt, sinkt sie in Ungarn und in anderen sozialistischen Ländern. Schuld geben ungarische Wissenschaftlerinnen der übermäßigen Arbeitsbelastung. „Viele arbeiten selbst noch im Urlaub“, erzählt mir meine Vermieterin, Iren Tomaska (wobei anzumerken ist, daß der Urlaub durchschnittlich zwölf Tage beträgt). Sie fährt fort: „Wenn ich nächsten Monat ins Krankenhaus gehe, dann brauche ich viel Geld. Der Arzt erwartet für die Operation 5.000 Forint (knapp ein Monatsgehalt), für größere Operationen noch mehr. Dann bekommen die Schwestern Geld, die Putzfrauen erwarten eine Kleinigkeit, genauso wie das übrige Personal. Da komme ich leicht auf 15.000 Forint. Wer nicht zahlen kann, der wartet und stirbt“, schließt sie drastisch. Zwar ist offiziell das Gesundheitswesen in Ungarn kostenfrei, aber real muß bezahlt werden.
Alle meine Interviewpartnerinnen erzählen mir nicht nur von der beruflichen Seite ihres Alltags, sondern wie selbstverständlich auch von der persönlichen, privaten Seite. Besonders beeindruckend die Erzählung von Eva Lengyel: Sie ist Ärztin in einem gerontologischen Institut und versorgt „nebenbei“ ihre bettlägerige 94jährige Schwiegermutter. Ihr Mann ist vor zehn Jahren im Alter von 49 Jahren gestorben (da wird die Statistik plötzlich sehr persönlich). Um Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, steht sie morgens gegen 5 Uhr auf, macht sich zurecht, bereitet das Essen für mittags vor (eine Verwandte, auch schon 75, betreut die alte Frau in Evas Abwesenheit), dann versorgt sie ihre Schwiegermutter: wäscht sie, legt einen Katheder, massiert Rücken und Beine usw. „Ich kann sie doch nicht ins Heim geben“, sagt sie, „sie hat mir doch geholfen, als meine Kinder klein waren, jetzt helfe ich ihr.“ Um 8 Uhr beginnt ihr Dienst im gerontologischen Forschungsinstitut der Universität. Sie betreut dort Patientinnen, macht Langzeitstudien und entwirft so „nebenbei“ ein pädagogisches Konzept für diese Patientinnen. „Die haben so viele Fragen, die müssen wir doch beantworten.“ Nach Dienstschluß löst sie zu Hause die Verwandten ab und versorgt ihre Schwiegermutter wie am Morgen. „Nein, auf Kongresse kann ich nicht fahren, ich muß doch nachts zuhause sein. Meine Tochter hilft mir zwar viel, aber ich kann sie doch nicht alles machen lassen, sonst verliert sie doch bald die Lust am Arztberuf. Und immer Katheder legen und das alles, das ist nichts für so junge Menschen.“ Bevor ich mich verabschiede, holt sie aus dem Schrank das Weihnachtsgeschenk für ihre Tochter, eine Flasche Parfüm und Seife. „Das ist ihre Lieblingsmarke, eigentlich ist es viel zu teuer, aber mal müssen wir uns doch auch was gönnen. Wir haben doch sonst nichts vom Leben.“
Nach all diesen Eindrücken ist es mir ein Rätsel, woher Zsuzsa Ferge ihre Hoffnung nimmt, daß sich durch „Glasnost“ und „Perestroika“ auch in Ungarn eine Frauenbewegung entwickeln könnte. „Es bewegt die Frauen doch so viel“, sagt sie, „die müssen sich doch einfach bewegen.“
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