: EINS, ZWEI, DREI, VIER, AUS DER TANZWERKSTATT
■ „Issues for the Nineties“ im Rahmen von E88
Artistik
Von den Luftnummern des Extemporary Dance Theatre stammen die werbewirksamen Bilder der Tanzwerkstatt: In Seilen und Netzen hoch unter dem Bühnenhimmel schaukeln die Tänzer. Zirkus als Vital-Tablette für die Künste, denen die eigene Puste ausgeht, steigt in seiner Popularität. Ohne Berührungsängste ließ sich das Tanz-Ensemble aus Großbritannien auf die rauhere Artistik ein, - aber es wurde eine von Peitschenknall, Raubtiergeruch und Sägespänen gereinigte Vorstellung. Mit perlenden Klängen und Lichtern in allen Farben der Zuckerstangen zauberte man ein bißchen a la Roncalli und herzte die Kindergemüter, die jeder Zuschauer in sich wieder hervorkramen konnte. Anmutig und mit eleganter Kraft wiegten, baumelten, schaukelten, schwankten, schwebten und kletterten die Tanznymphen. Für Komik sorgte ein Gentleman, der in seinen Stürzen vom Seil so gerade eben dem Genickbruch entging. Man hatte dem Ganzen noch eine Story von den Mondgöttinnen untergeschoben schließlich treten ja selbst Gymnastikerinnen in ihren Gruppennummern nicht mehr ohne dramatische Inhalte auf. Trotz allem Entzücken: Man sah sich schnell satt.
Gefuchtel? Seismographen!
Anfang der siebziger Jahre entwickelten Steve Paxton und Lisa Nelson die Contact Improvisation und nun waren sie, die Götter dieser Rebellion, gegen den Technik-Ballast der klassischen und modernen Schulen und gegen Hierarchien, die den Tänzer immer wieder in ein ausführendes Organ der Ideen der Choreographen degradieren, zu dem Programm „Issues for the Nineties“ gekommen, das die Tanzfabrik im Rahmen der Tanzwerkstatt konzipiert hat. Das Publikum, zum größten Teil von der tanzenden Zunft, von denen einige schon einen fünfstündigen Marathon der Contact-Improvisation in der Tanzfabrik hinter sich hatten, beobachtete Steve und Lisa fasziniert und applaudierte begeistert. Mir aber ging es wie jemandem, der zum ersten Mal vor informeller Malerei steht und vor lauter Klecksen das Bild nicht finden kann. Ratlos kniff ich die Augen zusammen und sah: Gefuchtel. Alle Linien und Bögen, die die Tänzer sonst aus ihren Körpern destillieren, waren abgebrochen, alle Strukturen und Ordnungen, die sich sonst im Raum entfalten, zum Teufel. Panik und Chaos in meinem Kopf; vergeblich putzte ich die Brillengläser.
Sie bewundere, wie sehr Lisa Nelson und Steve Paxton auf ihre Körper hören könnten, wie sehr sie sich auf sich selbst einließen, erzählt mir eine Freundin. Aha.
Ganz allmählich erst brüte ich eine Vorstellung von dem aus, was ich gesehen habe. Mit der Empfindlichkeit einer medizinischen Apparatur, die Gehirnströme und Pulsschläge mit zitterndem Zeiger aufzeichnet, reagieren die Tänzer als Seismographen empfangener und selbstproduzierter Impulse. Es gibt keine Geste oder Bewegung, die als zufällig verworfen und zensiert würde. Jede Irritation im Augenwinkel der Wahrnehmung kann die Bewegungsrichtung ändern; jeder antreibende Gedankenfetzen, jede Assoziation wird angenommen. Wenn man auf einen Menschen die Vektoren seiner Energien zeichnete, könnte man ihnen divergierende Spannungen ablesen, die hier der Körper vibrierend austrägt. Eine innere Befindlichkeit wird sichtbar; eine Zustandsbeschreibung, der es weniger auf den Exhibitionismus von Gefühlen ankommt als auf ein Protokoll des ständig nach außen und innen attackierten Wahrnehmungsapparates der fünf Sinne, dessen Anfälligkeiten normalerweise unter der Bewußtseinsgrenze gehalten werden. Die Bühne wird beinahe zur analytischen Versuchsstation; als blicke man durch ein Vergrößerungsglas in den Menschen hinein.
Laurie Booth, ein artistischer Virtuose aus London, trat mit seiner Performance „Dance Noire“ nach den Amerikanern auf. Zusammen mit dem Audio-Visualisten Lol Sargent hatte er Ströme von Assoziationen gebündelt und potenziert zu einem niederstürzenden Niagarafall der Bilder und Töne. Als ob ein Film mit 50 Bildern pro Sekunde statt der gewohnten 24 abliefe, zischte das multidimensionale Feuerwerk vorüber, etwas über die Geduld der Zuschauer hinaus immer wieder neu aufflackernd. Ton- und Dia-Schau schöpften aus einer Kulturgeschichte mindestens der Welt, einschließlich Apokalypse. Auf seiner Weste trug der Tänzer eine Weltkarte, und vielleicht stehen seine Chancen für die Anwärterschaft auf die Verkörperung des Weltgeistes nicht schlecht.
Girls and boys
Faltenrock und weißer Kragen: Eines Tages mußte es ja so weit kommen. In jedem Schulmädchen steckt eine femme fatale und heimliche Leidenschaft, die letztlich sich selbst zum geliebten Objekt hat. In „Oidan ... Skroeba“ vonAngelika Oei aus Rotterdam purzelten die Dämonen heraus; mit Lust stürzen sich die Mädchen in den Sand, daß es kracht, staubt und die Kleider knittern, und pressen sich mit zitternden Pulsen an den Boden. Ihre linkischen Ausbrüche geschehen in den Mustern des standardisierten Tanzes, und ganz allein kosten sie den Schwindel aus. Ein wenig franste das Stück in eine Aneinanderreihung von Ideen aus, denen eine durchgehende Dramaturgie fehlte.
Am selben Abend eine Choreographie nur für Männer von Krisztina Chatel aus Amsterdam entworfen: eingeschlossen in einen gläsernen Kasten starten fünf Männer zu einem existentiellen Marathon. Die Hände zu Fäusten geballt, in den Posen antiker Olympier, dürfen sie kein Nachlassen zeigen. Sportlich halten sie im fortgesetzten Dribbling die Konzentration aufrecht; beinahe militärisch schließen sie immer wieder zu geordneten Formationen auf. Der repetitive Tanz wird zum Alptraum: er stimuliert den Körper zur unendlichen Fortsetzung, zur Verausgabung über die eigentlichen Kräfte hinaus als wäre der Mensch ein Organismus, der von seinem eigenen Schweiß leben kann. Die Bewegung selbst produziert ihr in immer weitere Ferne rückendes Ziel und wird zum Wahn.
Rückkehr
Zu einer Klassik, die ironisch und melancholisch mit ihrem eigenen Vergangensein spielt, kehrte Cesc Gelabert aus Barcelona zurück. Im Museumsprojekt „Tanz im Transit“ (mit dem die Tanzwerkstatt den oft mißachteten Stellenwert des Tanzes unter den Künsten betonen wollte), hatte Gelabert im Lichthof des Martin-Gropius-Bau zwischen antiken Säulentrommeln und fragmentarischen Figuren aus dem Apollo -Sosianus-Tempel (aus der Ausstellung „Kaiser Augustus und die verlorene Republik“) einen idealen Ort entdeckt. Oper -Musik und Marsch der Stierkämpfer: Gelabert stürmte durch den Lichthof, umtanzte Leidenschaft und Schmerz in kaum noch für möglich gehaltener Sublimierung und Stilisierung, trauerte vor den Torsi des Tempels um die nicht mehr zu erreichende große Pose der Antike und genoß das Pathos. Er flatterte zwischen den Zuschauern durch wie ein verlorener Traum vom schönen tragischen Bühnentod, den jeder doch noch heimlich in sich bewahrt hatte.
Katrin Bettina Müller
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