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Strahlenfolgen und kein Ende in Goiania

Die Wunden der mit Cäsium verstrahlten Opfer des Unglücks in der mittelbrasilianischen Stadt Goiania wollen nicht heilen / Bürgervereinigungen kämpfen um Aufklärung / Unabhängige Strahlenmessungen belegen punktuell hohe Cäsium-Kontamination  ■  Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) - Fast ein dreiviertel Jahr nach dem Strahlenunglück in der mittelbrasilianischen Stadt Goiania ist die radioaktive Belastung mit Cäsium-137 (Halbwertszeit: 30 Jahre) an einigen Stellen der Provinzhauptstadt höher als kurz nach dem Unglück. Das berichten Mitglieder der „Bürgervereinigungen der Opfer“, die vor wenigen Tagen eigene Strahlenmessungen zur Überprüfung der Behördenangaben aufgenommen haben. Die punktuell hohen Meßwerte sind vermutlich auf heftige Regenfälle zurückzuführen, die verseuchte Oberflächenpartikel in Mulden zusammengeschwemmt haben. Das Unglück war im September vergangenen Jahres ausgelöst worden, als ein Schrotthändler ein ausrangiertes medizinisches Gerät zur Strahlentherapie gewaltsam geöffnet hatte.

Das von den Bürgervereinigungen jetzt verwendete Strahlenmeßgerät war nebst einer Geldspende im Mai in Goiania eingetroffen. Es ist das Resultat einer von der taz auf Initiative des Grünen Bundestagsabgeordneten Wolfgang Daniels durchgeführten Sammlung. Daniels, im Hauptberuf Physiker, hatte einen Monat nach dem Unglück in Goiania eigene Kontaminationsmessungen durchgeführt und damit in der brasilianischen Öffentlichkeit für erheblichen Wirbel gesorgt. Bei dem Strahlenunfall waren nach offiziellen Angaben mehr als 240 Personen verstrahlt worden. Bis heute starben vier von Ihnen.

Im Gespräch mit der taz berichteten jetzt Mitglieder der Bürgervereinigungen, daß etwa 40 Personen auch heute noch regelmäßig medizinisch betreut werden. Einige mußten sich kürzlich erneut in stationäre Behandlung begeben. Im Krankenhaus werden die Strahlenopfer in einer separaten Station isoliert.

Im Mai aufgenommene Fotos zeigen, daß durch die Cäsium -Strahlung ausgelöste offene Wunden bei einigen der Betroffenen auch nach acht Monaten noch nicht verheilt sind. Die „medizinische, psychologische und auch die soziale Versorgung“ der Betroffenen sei nach wie vor schwierig, sagt Jadyr Andrade von der Bürgervereinigung in Goiania. „Praktisch niemand“ sei in der Lage zu arbeiten oder sonst „ein normales Leben zu führen“. Die betroffenen Familien werden von den Behörden mit den notwendigsten Grundnahrungsmitteln versorgt. Die wöchentliche Zuteilung reicht jedoch nach Angaben der Bürgervereinigungen weder von der Menge noch von der Zusammensetzung her aus, um den Gesundungsprozeß der Strahlenopfer zu beschleunigen.

Seit die Nationale Brasilianische Atomenergiekommission (CNEN) den Katastrophenort Ende 1987 kurzerhand für „frei von jeder radioaktiven Strahlung“ erklärte, wird der Bevölkerung Goianias praktisch jede weitere Information über den Unfall verweigert. „Vor allem existiert eine große Unsicherheit, was in den 20 Tagen zwischen dem Unfall und seiner Entdeckung geschehen ist“, klagt Jadyr Andrade. Empört hat sie die Nachricht, daß die staatlichen Gesundheits- und Atombehörden inzwischen von jeder Mitverantwortung für den Unfall freigesprochen wurden. Stattdessen sollen neben den Besitzern der Strahlenquelle nun ausgerechnet die Opfer selbst angeklagt werden, weil sie unrechtmäßig in den Besitz des medizinischen Geräts gelangt seien.

Die radioaktiven Abfälle waren nach dem Unfall in Fässer verpackt worden und lagern seither teils im Freien, teils unter einer Stoffplane verborgen auf einem eiligst vorbereiteten Gelände nahe Goiania. Das „Zwischenlager“ bei der Ortschaft Abadia ist von einem Zaun umgeben und wird von Militärs gesichert. Nach anfänglich heftigen Protesten bildete sich auch in Abadia eine Bürgervereinigung. Zunächst, sagt Adaflor Nascimento, der Vorsitzende der Gruppe, sei der Bevölkerung zugesichert worden, daß aus dem „Zwischenlager“ kein Endlager werde. Heute werde man „über die Zukunft des radioaktiven Materials vollständig im Unklaren gelassen“. Ein Endlager für radioaktive Abfälle ist auch in Brasilien nicht in Sicht.

Bei ihren Aufklärungsbemühungen werden die Bürgervereinigungen offenbar nicht nur von den Behörden als Störenfriede empfunden, die den Prozeß des kollektiven Vergessens behindern. „Es gibt in der lokalen Presse oder im Fernsehen kaum eine Möglichkeit, sich zu artikulieren.“, sagt Nascimento im Gespräch mit der taz. Und: „Bei den Leuten existiert eine große Angst, über das Thema öffentlich zu diskutieren.“ Solange der Kampf auf die lokale Ebene begrenzt bleibe, gebe es wenig Hoffnung auf vollständige Aufklärung und Entschädigung der Opfer.

Spendenkonto Associacao das Vitimas do Cesio-137; Caixa Economica Federal, Goiania; 700.138-3; Agencia 1551; Brasilien.

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