„Selbstverwaltung + Markt Sozialismus“

■ Interview mit dem sowjetischen Historiker Wjatscheslaw Daschitschew über den Sozialismusbegriff in der Reformära

Das Vokabular bleibt das gleiche: auch vor der Parteikonferenz sprach Gorbatschow am Dienstag von „Revolutionärer Umgestaltung“, „Führung durch die Partei, der politischen Avantgarde der Gesellschaft“ und dem „Demokratischen Zentralismus“ - wie es die KPdSU seit jeher getan hat. Aber hat sich der Inhalt der traditionellen Begriffe nicht schon längst geändert, mit der in Aussicht gestellten Stärkung der Sowjets auf Kosten der Partei, dem bald konvertiblen Rubel, der Zulassung von Marktpreisen und privater Landwirtscahft?

taz: Durch den angepeilten Eintritt in den IWF, den Internationalen Währungsfonds, die Diskussion über die Konvertierbarkeit des Rubel glauben inzwischen viele Linke im Westen, daß die Sowjetunion sich in das kapitalistische Weltsystem einordnen wird. Was ist da noch Sozialismus?

Daschitschew: Stalin hat eigentlich die Prinzipien des Sozialismus verraten. Lenin ist für die Macht durch das Volk eingetreten, für die Selbstverwaltung des Volkes. Das ist das Ideal des Sozialismus. Die Genossenschaften im breitesten Sinn des Wortes: die Produktionsgenossenschaften, die Verbrauchergenossenschaften und die landwirtschaftlichen Genossenschaften auf freiwilliger Basis, unabhängig vom Staat usw., zusammen mit der Ausnützung marktwirtschaftlicher Instrumente zur Wirtschaftslenkung und zur Rentabilität der Betriebe, das sind die wichtigsten Merkmale des Sozialismus. Was hat Stalin eingeführt? Kommandogewalt, administrative Methoden, Zentralismus und die Unterordnung der Kooperativen unter den Staat. Dann den formalen Charakter der Räte, der Sowjets auf allen Ebenen. Jetzt müssen wir alle stalinistischen Verzerrungen dieser Grundprinzipien dieses Sozialismus beseitigen und die leninschen Ideen wiederbeleben. Dasist lebensnotwendig, das ganze administrative System erwies sich als unsinnig, die Bedürfnisse der Gesellschaft wurden nicht befriedigt. Unter Stalin wurde die Sowjetunion abgeschlossen von der Außenwelt. Dieser Umstand hat unsere Rückständigkeit mitverschuldet. Die Wirtschaft war verwöhnt, war in einem Glashaus.

Mit der neuen Politik bleibt der gesellschaftliche Charakter des Sozialismus bestehen. Ich betrachte die Genossenschaften als eine sozialistische Organisation der Arbeitsorganisation und der Verteilung. Das bedeutet mehr Sozialismus, unter diesem Motto wird die Perestroika durchgeführt.

Mir scheint Ihr Rückzug auf Lenin etwas zu kurz, weil ja auch Lenin unterschiedliche Phasen der Politik vom Kriegskommunismus bis hin zur Neuen Ökonomischen Politik beschrieben und zugelassen hat. Bei den jetzigen Umwandlungen muß es doch auch um eine neue Dimension gehen, um einen Freiheitsbegriff, der nicht bei der Sphäre der bürgerlichen Freiheiten stehenbleibt. Ist in ihrer Definition der marxistische Begriff der Freiheit, der sich doch auch auf die Selbstbestimmung der Produzenten und ihre Macht über die Produktionsmittel bezieht, enthalten?

Was die Demokratisierung unserer Gesellschaft anbetrifft, muß man in erster Linie unterstreichen, daß es fundamentale menschliche Werte gibt, die sowohl für den Kapitalismus wie für den Sozialismus gültig sind. So zum Beispiel die Wählbarkeit, die Rotation, das wurde von der Menschheit erfunden in ihrer jahrtausendealten Geschichte. Diese Werte hat man unter Stalin nicht anerkannt und als bürgerliche Werte abgetan. So können Sie in der großen sowjetischen Enzyklopädie lesen, die Selbstverwaltung sei ein bürgerlicher Begriff. Das ist vollkommen falsch. Bei der Pariser Commune wurde die Selbstverwaltung zum ersten Mal erprobt. Jetzt wollen wir das Prinzip „die Macht durch das Volk“ verwirklichen, indem die Belegschaften alle Vollmachten bekommen und einen großen Spielraum für eigenständige Entscheidungen haben. Früher fühlten sich die Arbeiter nicht als Besitzer der Produktionsmittel. Staatseigentum ist ein mythisches Eigentum, das niemanden interessiert. Der Staat aber kann das Eigentum unmittelbar an die Arbeiter übergeben. Wenn Sie die Landwirtschaft ansehen, dann ist die Idee der Genossenschaften der des Staatseigentums überlegen. Die Bauern fühlen sich bisher nicht als Besitzer des Landes.

Wir haben aber auch zu spät gemerkt, daß der Markt auch wichtig ist für unser politisches System. Die Preise wurden bisher willkürlich festgelegt und sie entsprechen nicht den Produktionskosten. Das führte zu Entstellungen des wirtschaftlichen Gefüges. Selbst die Planung konnte nicht auf den Preisen basieren. Wir wollen die Preis-Wert-Relation zurechtrücken. Wir wollen in Zukunft auch zu einer konvertierbaren Währung übergehen. Wir wollen uns in die Weltwirtschaft integrieren.

Das Interview führte E.Rathfelder