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Der Teufel und die tiefe blaue See

■ Wider die Verkirchlichung der Psychoanalyse: Ein Sammelband der psychoanalytischen Linken

Aus Revolutionen werden Staaten und staatstragende Parteien; aus Religionen und Reformationen Kirchen; und aus der Psychoanalye, einer gewiß einstmals revolutionären Wissenschaft, eine Institution mit all dem, was offenbar zu einer rechtschaffenen Institution gehört: einer dogmatisch verkrusteten und geglätteten Lehre, der obligatorischen Herrschaftshierarchie und Abgrenzungsmechanismen, die im Namen des Vaters und Gründers ausgrenzen, was und wer nicht dazugehört.

So jedenfalls stellen sich, etwas zugespitzt gesagt, Geschichte und Gegenwart der Psychoanalyse aus der Sicht eines Sammelbandes dar, den das Psychoanalytische Seminar Zürich jetzt unter dem vielversprechenden Titel: „Between the devil and the deep blue sea. Psychoanalyse im Netz“ herausgegeben hat.

Im Mai 1986 waren etliche ExponentInnen der internationalen psychoanalytischen Linken in Zürich zusammengekommen, um über das Thema „Institutionalisierung Desinstitutionalisierung“ zu diskutieren. Es sollte um eine kritische Ortsbestimmung der Psychoanalyse zwischen Chaos und Ordnung, zwischen orthodoxer Institution und Strukturlosigkeit, kurz: zwischen dem „Teufel“ und der „tiefen blauen See“ gehen. Die VeranstalterInnen darf man dabei wohl eher in der Nähe der „tiefen blauen See“ vermuten. Denn das Psychoanalytische Seminar Zürich ist heute zweifellos eines der Zentren einer dissidenten Psychoanalyse, die nicht bereit ist, auf ihre kultur- und gesellschaftskritischen Impulse zu verzichten und auf eine bloße Behandlungstechnik zu schrumpfen, die zur Anpassungstherapie heruntergekommen ist.

So fehlt es dem Band denn auch nicht an produktiven Provokationen. Der Eröffnungsbeitrag von Johannes Cremerius zum Beispiel über die „Unterdrückung von Wahrheit, persönlicher Freiheit und wissenschaftlichem Denken in der psychoanalytischen Bewegung“ nennt mit geradezu lapidarer Deutlichkeit den Prozeß der inneren Verkirchlichung der Psychoanalyse und ihrer äußeren Anpassung beim Namen. An Freuds wahrhaft beklagenswerter Kollaboration mit der Militärpsychiatrie während des Ersten Weltkrieges wird historisch belegt, wie die neue, verschrieene Seelenwissenschaft sich zu etablieren sucht, indem sie wesentliche Ziele und Prinzipien preisgibt. Der Machtpolitiker verrät den Analytiker Freud. Und diese Selbstpreisgabe ist ja keineswegs ein Einzelfall gewesen, wie sich schon an der Frühgeschichte der Psychoanalyse zeigen läßt. Die geharnischte Kritik, die Cremerius darüber hinaus am derzeitigen Ausbildungs- und Zulassungssystem der institutionalisierten Psychoanalyse als Instrument der Machtkontrolle übt, ist so radikal, daß seinen brandigen Thesen das Echo nicht fehlen wird - um so mehr, als sie von einem der angesehensten Vertreter des Faches vorgetragen werden.

Das gilt auch für den ebenso lesenswerten Beitrag von Mario Erdheim: „Wenn Institutionen ver-enden“. Er sieht das Dilemma der institutionalisierten Psychoanalyse darin, daß sie ihre gesellschaftlichen Erfolge gerade mit derjenigen Unbewußtheit errang, gegen die sie ursprünglich angekämpft hatte. Daß auch diese Institution eine der „Agenturen des Todestriebes“ sein soll, „die unter dem Gesetz des Wiederholungszwanges stehen“, wird ihren RepräsentantInnen noch viel weniger schmecken. Und ob der pädagogische Mythos, den Erdheim ironisch erzählt, ihnen gefallen wird? „Es war einmal eine Zeit, in der jeder sich jedes Können und Wissen anmaßen konnte; es war die schreckliche Zeit der Kurpfuscher und selbsternannten Medizinmänner, und diese Zeit fand ein Ende, als gute Lehrer eine gute Ausbildung mit guten Prüfungen vermittelten. Die Kurpfuscher hatten nichts mehr auszurichten, und nur approbierte, diplomierte Therapeuten gingen gekonnt ihrer Tätigkeit nach. (...) Und alle, die dazu gehörten, hatten eine gute Identität. Jeder wußte, wer was war: jener dort war früher in der Seminarleitung gewesen, und dieser da hat große Chancen, gewählt zu werden. Der eine darf bereits Kontrollanalysen machen, obwohl er noch so jung ist, aber die bleiche Gestalt dort hinten ist schon zweimal abgewiesen worden. Für sie steht nun alles auf dem Spiel.“ Bei allem ironischen Vergnügen ist indessen die Alternative, die sich aus der Sicht Erdheims stellt, nur noch die zwischen dem krank- und krampfhaft verleugneten „Ver-enden“ und der Desinstitutionalisierung der Institution.

Die anderen Beiträge des Bandes gehen durchaus in dieselbe Richtung. Allerdings wird auch hinreichend deutlich, daß eine Psychoanalyse, die den üblichen Spaltungen nicht verfallen will, zwischen Chaos und Ordnung einen Zwischenweg finden muß. Pschoanalyse kommt ohne ein gewisses Maß an Organisation, an Vernetzung innen und mit den sozialen und politischen Bewegungen außen nicht aus. Und wie weit läßt sich auf eine umrissene, tradier- und auch lernbare, eben „psychoanalytische“ Lehre verzichten? Haben die Patienten, die Laien nicht ein Recht darauf zu wissen, daß sie nicht zu einem Kurpfuscher, zu einem wilden Analytiker, sondern zu einem gut ausgebildeten, sich selber kontrollierenden Arzt gehen? Schließlich: Wie steht es denn im Umgang der PsychoanalytikerInnen miteinander mit der eigenen desinstitutionalisierten Praxis? Die Diskussionen, die der Band erfreulicherweise ungeschönt und ungeschützt dokumentiert, sind von Herrschaftsgesten und manipulatorischen Techniken durchaus nicht frei. Wenn es die angeblichen Sachzwänge der Technik so wollen, hört man zum erzwungenen Ende den ganz und gar nicht analytischen Satz: „Das war eine technische Sache, die mit uns nichts zu tun hatte.“ Und im Mai 1986, ein paar Tage nach Tschernobyl, ist diese desinstitutionalisierte Psychoanalyse so spontan, so offen, so auf der Höhe der unberechenbaren Realität, daß der Name Tschernobyl gerade ein paar Male fällt, das Problem aber fast gänzlich draußen bleibt.

Trotzdem wird in dem Band alles in allem ein kreatives, gesellschaftskritisches und basisdemokratisches Potential deutlich, das man sonst in den Parteien, Organisationen und Kirchen jeder Sorte lange suchen muß. Es artikuliert sich am schärfsten in einem Beitrag Helmut Dahmers, der dem Prinzip der Cliquenwirtschaft und jeglicher Verbandsloyalität im Zeichen absoluter Parität, Egalität und Diskussionsfreiheit sowohl den Gehorsam wie die Treue aufkündigt. Und die LeserInnen wissen am Schluß, warum sie das tun: Die kontroverse große Ausstellung zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland, die unter dem Motto „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter...“ vor allem die Anpassungstechniken der in Nazi-Deutschland verbliebenen Psychoanalytiker dokumentiert hatte, war von der hochoffiziellen Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung zunächst auch dem dissidenten Zürcher Seminar zugesagt worden. Im Rahmen der Desinstitutionalisierungs-Tagung sollte sie dort gezeigt werden. Doch dann meldete plötzlich die hochoffizielle und weitaus weniger dissidente Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse ihr Interesse an. Und siehe da: Die Ausstellung blieb auf der Strecke. Offenbar ging das Leben der Institutionen auch hier auf eine sehr merkwürdige Weise weiter...

Ludger Lütkehaus

Pschyoanalytisches Seminar (Hrsg.): Between the devil and the deep blue see. Psychoanalyse im Netz. Kore Verlag Freiburg/Br. 284 S., 35 DM

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