: „MIT LEBENSFREUDE INS UNGLÜCK“
■ Materialienband der Roten Grütze zu „Gewalt im Spiel“
Wie man ein Problem durch seine konventionelle Thematisierung gleich wieder zu den Akten legen kann, demonstriert eine Serie im 'Stern‘: „Inzest“ von Heide Glade, aufgezogen zwischen authentischem und persönlichem Erfahrungsbericht (auf jeder Seite ein kleines Foto der Autorin aus ihrer Mädchenzeit) und Fortsetzungsroman. Schon der Titel „Inzest“ spekuliert mit dem hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Familiengeheimnis und lenkt den Blick ab von struktureller Gewalt. In einer Sprache zwischen Kolportage und Jung-Mädchen-Roman wird die Entwicklung der gewaltsamen Beziehung zwischen „Gabi“ und „Papi“, ihrem Stiefvater beschrieben. Das Problem der Gewalt gegen Frauen und des sexuellen Mißbrauchs von Mädchen wird kanalisiert in eine böse Figur, abgeschoben auf den Stiefvater und damit der Gesellschaft ein Schlupfloch angeboten, sich nicht angesprochen zu fühlen, in einer „normalen“ Familie keinen Ort der Gewalt zu sehen. Die Form der wöchentlichen Fortsetzung muß mit Spannung kalkulieren und nutzt dafür die Angst des Mädchens und die Drohungen des Stiefvaters aus. Eine Klinikärztin und Therapeutin beschreibt in eingeschobenen Kommentaren die Schädigungen, Verletzungen, Langzeitleiden und Störungen der Frauen. Obwohl sicher in einer anderen Intention formuliert, festigt sie dabei ein Bild von der schwachen Frau. Die enormen Anstrengungen und Leistungen, die ihnen ihre Situation abverlangt und die sie in der Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte entwickeln, bleiben unausgesprochen.
Dieser populären Form, Probleme in Klischees zu packen und wegzuschieben, steuert ein neues Buch der Theatergruppe Rote Grütze entgegen: „Gewalt im Spiel“. Neben dem Text des gleichnamigen Theaterstückes und vielen Fotos enthält er reiches Material, das die andauernden Auseinandersetzungen der Theatergruppe mit dem Thema der Gewalt dokumentiert: Die Texte stammen teilweise aus ihren Recherchen während der Erarbeitung des Stückes; andere Geschichten wurden ihnen von Frauen und Männern erzählt, nachdem sie das Theaterstück gesehen hatten. In den Berichten von Frauen beeindruckt oft ihre Kraft, die eigene Person nicht durch die erfahrene Gewalt auslöschen zu lassen.
Im Prolog - vier Berichten der SchauspielerInnen und ihres Regisseurs über die Entwicklung ihrer Rollen und des Stückes - beginnt ein sensibles Ertasten von alltäglichem Verhalten und alltäglicher Gewalt. Die Nähe und Distanz der eigenen Person zu den Rollen auf der Bühne wird ausgelotet; das Stichwort „Selbsterfahrung“ erhält konkrete Umrisse. Holger, Ingrid, Günter und Helma investieren eigene Lebenszeit in ihr Stück. Wieviel Spiel notwendig ist, um eine Rolle zu destillieren, die schwarz-weiße Figurenzeichnung vermeiden soll; wie die Scham überwunden wird, die Lust an der Machtausübung darzustellen; wie die Furcht, in der Darstellung einer Niederlage von den eigenen Ängsten nicht mehr loszukommen, langsam abgebaut wird. Helma, Ingrid und Günter spielen Männer und Frauen nicht in der Haltung des Anklägers; sie suchen im Publikum die Bündnispartner.
Text-Passagen von Alice Miller, von Frauen aus der Wildwasser- und Notruf-Initiative, Interviews mit Männern auf der Straße, Berichte aus Therapie-Seminaren im Knast, und immer wieder Beschreibungen von vergewaltigten und mißbrauchten Frauen über ihr verletztes Leben und ihr gestörtes Selbstbild, nähern sich im größten Teil des Buches dem Problem der Gewalt aus vielen Perspektiven. Dabei geht es weniger um Schuldzuweisungen, als darum, sich bewußt zu werden, wie an peripheren Orten entsteht, was nur im Zentrum des gewaltsamen Ausbruchs wahrgenommen wird. Die geschlechtsspezifische Festschreibung der Rollen durchkreuzt Wünsche und Bedürfnisse, katalysiert und verhindert Gefühle. Die Vergewaltigung von Frauen und der sexuelle Mißbrauch von Mädchen erscheint immer mehr als ein Kristallisationspunkt von grundsätzlichen Machtverhältnissen, die die Text -Collagen immer mehr in den Vordergrund rücken. „Es sind Männer und Frauen. Mütter und Väter. Plötzlich sind wir es selbst.“ Dies den Texten vorangestellte Motto beschreibt eine Erfahrung, die auch die LeserInnen des Buches machen werden.
„Täter sind keine Demokraten. Männer könnten es werden. Kein Geld für diese Arbeit zu geben, läßt die Vermutung aufkommen, daß die Gesellschaft mit Tätern und Opfern besser zurechtkommt als mit Männern und Frauen.“ So schließt Helma Fehrmann ihren Bericht über den Besuch bei einem Therapie -Seminar für Vergewaltiger. Das Klischee von Täter und Opfer aufzubrechen, bedeutet nicht von der Mitschuld der Frauen zu fabulieren oder den Opferstatus der Männer zu etablieren beides legitimistische Denkweisen, die leicht in einem ausweglosen Teufelskreis enden. Gegen diese kopfschüttelnde Betrachtung der Tragik der patriarchalischen Welt, gegen diesen vom Unglück hypnotisierten, erstarrten und schließlich nichts mehr sehenden Blick setzt die Rote Grütze in ihrem Theaterstück die Auflösung des Erschreckens in Lachen. „Gewalt im Spiel. Mit Lebensfreude ins Unglück, dann erkennste was“, beschreibt Helma das Ziel ihres Stückes. Die Aufführung schubst einen spielerisch in die Arbeit am eigenen Machtverhalten hinein, nie mit moralischer Erpressung. Zum Betasten, Beschnuppern, Umkrempeln, Bohren, Ausgraben, Sezieren, aber auch zum Zeit-lassen, Pflegen, Streicheln des Rollenverhaltens macht das Buch viele Angebote; und fordert dabei im Lesen und Nachdenken ein Stück mehr Eigenleistung als der Theaterabend. Aber bei aller Härte versacken auch die Texte nie in depressive Betroffenheit.
Katrin Bettina Müller
„Gewalt im Spiel“ Hrsg. von der Roten Grütze, ist im Elefantenpress-Verlag erschienen. Ab 11. Juli spielt die Rote Grütze im Grips-Theater „Gewalt im Spiel“ und „Einer wie ich“.
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